R. J. stellte ihre Handtasche wieder auf die Anrichte.»Glaubst du wirklich, Charly würde hier leben wollen, wenn du ihn heiratest?«
«Mom, eben saßen wir noch hier und waren uns einig, daß ich keine gute Ehefrau abgeben würde.«
«Keine Ehefrau im herkömmlichen Sinn«, fügte R. J. mildernd an.
«Manche Leute fürchten sich vor dem Leben, sie fürchten sich, von zu Hause weg und raus in die Welt zu gehen. «Vic stand auf, trat zu ihrer Mutter und sah ihr fest in die Augen.»Ich bin nicht so. Aber Surry Crossing ist genau das, wo ich sein möchte. Mit lebendigen Dingen arbeiten ist genau das, was ich tun möchte.«
«Du erwartest doch nicht mein Einverständnis, daß du das College nicht zu Ende machst?«
«Doch Mom, das erwarte ich. Ich habe endlich erkannt, was ich will.«
R. J. sah aus dem Fenster auf den Fluß, auf das blasse Winterlicht.»Hm, ich habe das College auch nicht fertig gemacht. Es würde mich sehr freuen, wenn du es tun würdest.«
«Mignon kann es für uns beide beenden.«
Es folgte ein langes Schweigen. Sogar Piper war still und wartete, daß R. J. etwas sagte.
«Na schön. Ich spreche mit Bunny. Ohne sie kann ich nichts entscheiden.«
34
Frank war zwar nicht erfreut, aber er nahm die Nachricht gelassener auf, als R. J. oder Vic erwartet hatten. R. J. wollte in der Stadt noch ein paar Besorgungen machen und dann mit Frank nach Hause fahren. Sie bat Vic, Mignon von der Schule abzuholen.
Als Vic in ihrem wasserblau-weißen Impala vor der Surry Highschool herumfuhr, sah sie zu, wie sich die Zirruswolken rotgold färbten. Über dem Haupteingang der Schule hing ein großer Kranz, der Vic daran erinnerte, daß sie noch kein einziges Weihnachtsgeschenk gekauft hatte. Eine Bomberjacke aus Leder wäre genau das Richtige für Charly, aber die waren so teuer. Sie würde sich etwas anderes einfallen lassen müssen. Sie wollte Chris einen Ring kaufen, aber dann fand sie, das wäre das ideale Geschenk zum Examen. Vielleicht eine Halskette oder so etwas zu Weihnachten, je nachdem was es kostete.
Hinter ihr hielt ein kleiner Ranger-Transporter. Die Fahrerin drückte auf die Hupe. Vic drehte sich um und erkannte Teeney Rendell.
Vic stellte den Motor ab, stieg aus und ging zu dem Ranger.»Hey, was machst du zu Hause?«
«In Holyoke haben sie uns früher rausgelassen. Ich bin hier, um Walter abzuholen. Du siehst gut aus, wie immer.«
«Du auch. «Vic betrachtete Teeneys hellbraune Augen und Haare.»Das letzte Mal hab ich dich im Sommer gesehn.«
«Für nächsten Sommer hab ich 'nen Job in Cape Cod. Dort zahlen sie besser als hier. Ich nehme an, du wirst dich bald nach einem richtigen Job umsehen.«
«Ja.«
«Du findest bestimmt eine gute Stelle. Ich weiß es einfach. «In Teeneys Augen blitzte Erkenntnis auf.
Vic erkannte es auch, ein fühlbares Einverständnis. Ohne daß es ausgesprochen wurde, wußte sie, daß Teeney lesbisch war.
Die Schulglocke läutete; komisch, sie klang wie die Glocke bei einem Boxkampf.
«Stell dir vor, es gibt Zeiten, da vermisse ich diesen Bau. Ich vermisse es, auf der Highschool zu sein ohne einen Gedanken im Kopf. «Vic trat von dem Transporter zurück.
«Du hattest immer Gedanken im Kopf.«
Vic lachte.»Falls wir uns nicht mehr sehen, frohe Weihnachten.«
«Gleichfalls, Vic.«
Vic ging zu dem Impala und lehnte sich an die Beifahrertür. Sie wollte das Lesbischsein nicht zum Mittelpunkt ihres Lebens werden lassen, aber sie mußte sich auf eine neue Weise sehen. Schließlich hatte sie nur gelernt» normal «zu sein; dazu war sie erzogen worden. Sie würde ihre Erwartungen an sich selbst ändern müssen. Vielleicht war das wie das Erlernen einer neuen Sprache.
«Vic!«Mignon kam winkend zu ihr gehüpft. Bei ihr angekommen, schlang sie die Arme um ihre große Schwester und drückte sie fest.»Was machst du hier?«
«Dich chauffieren. Mom hat keine Zeit.«
«Bis bald, Walter. «Mignon winkte dem bestaussehenden Jungen der Abschlußklasse zu. Sie flüsterte:»Es tut mir weh, ihn bloß anzusehen. «Sie hob die Stimme, als sie Teeney in dem Ranger erkannte.»Hey, Teeney.«
«Hey, Mignon. «Teeney winkte, als sie den Ford-Transporter anließ und losfuhr.
Mignon nickte oder rief vorbeigehenden Schülern und Schülerinnen zu. Sie war ein beliebtes Mädchen. Vic bemerkte, daß sie sogar ein paar nette Worte zu Marjorie Solomon sagte.
«Sehr diszipliniert.«
Mignon rümpfte die Nase.»Weil du und Mom mich sonst grün und blau schlagen würdet. «Sie sprang ins Auto, hopste auf dem Sitz auf und ab.»Wann läßt du mich endlich diese Karre fahren?«
«Wenn du dein erstes graues Haar hast. «Vic ließ den Motor an und jagte den Wagen die Straße entlang, bloß um Mignon kreischen zu hören.
«Hey, wo fahren wir hin?«»Zu Onkel Don. Ich möchte telefonieren, ohne Mom und Dad dabeizuhaben. Ich kann das Telefon in Onkel Dons Büro benutzen.«
«O Baby. «Mignon verdrehte die Augen und machte Kußgeräusche.
«Rabenaas.«
«Lesbe.«
«Mignon, mach mal Pause, ja?«
«Apropos Pause, wieso bist du eigentlich zu Hause? Ich dachte, ihr macht erst nächste Woche Pause. «Mignon lächelte, sie fand sich geistreich.
«Ich bin in Schimpf und Schande zu Hause.«
Mignon drehte sich zu ihrer Schwester hin, ihr Körper war starr vor Spannung.»Haben sie's rausgekriegt?«
«Nein.«
«Weißt du, daß Charly hier war?«
«Ja.«
«Bist du deshalb zu Hause?«
«Ich bin zu Hause, weil ich vom College geflogen bin und ich es Mom und Dad sagen mußte.«
«Nein!«
«Doch.«
«Haben sie dich rausgeschmissen, weil du lesbisch bist?«
«Nein, verdammt noch mal, das weiß niemand außer dir, es sei denn du konntest deine große Klappe nicht halten.«
«Danke. «Mignon ließ sich in den Sitz zurückfallen.
«'tschuldige, Mignon, es war alles ein bißchen viel. Mom war sehr bekümmert. Dann sind wir zu Dad gefahren und haben es ihm erzählt. Er war prima. Ich meine, er hat mir nicht seinen Segen gegeben, aber er hat mich auch nicht verdammt. Ich hatte gedacht, ich würde das heil durchstehen, dennoch war mir wohl doch banger zumute, als mir bewußt gewesen war. Gott, es tut mir so Leid, Mom und Dad zu enttäuschen.«
Mignon klopfte mit einem Finger auf ihre Schulbücher.»Herrje, wie willst du ihnen dann das mit Chris verkleckern?«
«Ich weiß nicht, aber das muß noch ein bißchen warten. Eins nach dem andern.«
«Was hast du gemacht?«»Häh?«
«Was hast du gemacht, daß du vom College geflogen bist?«
«Och, ich bin zur katholischen Kirche gegangen und hab der Muttergottesstatue eine Grillschürze umgebunden, und ich hab ihr eine Kochmütze aufgesetzt und sie mit Kochgeräten und einem Grill ausgestattet.«
«Ist das cool!«Mignon klatschte in die Hände.»Obercool.«
Vic lachte.»Es war sehr lustig, aber man hat mich erwischt und aus die Maus.«
«Bist du deprimiert?«
«Ich dachte erst, ich bin's nicht, aber ein bißchen bin ich's wohl doch. Ich fahr morgen zurück, packe meine Sachen, versuche meine Restmiete auszurechnen, und dann nichts wie weg.«
«Und Chris?«
«Sie ist schließlich nicht aus der Welt, Mignon.«
«Will sie mit dir zusammenleben?«
«Nach ihrem Examen, ja.«
Sämtliche Laternenpfähle vor dem Autohaus waren mit Bändern in Rotgold-metallic umwunden. Ein riesiger Weihnachtsbaum nahm den Ehrenplatz hinter der großen Fensterscheibe ein und verdeckte Hojo auf ihrem Kommandoposten fast, aber nicht ganz.
Sie parkten.
«Tante Bunny ist hier«, warnte Mignon.»Hat ihr Fernglas um. Hält sie das für 'n modisches Accessoire oder was?«