«Wunderst du dich über meine Neigung?«
«Nicht mehr. Am Anfang schon, aber wenn du glaubst, daß dies dein Weg ist, dann glaube ich es auch. Und ich hoffe, daß alles gut geht. Charly tut mir Leid, aber du bist was du bist.«
«Am meisten hat mich Mignon erstaunt. Sie weiß Bescheid. Sie hat tatsächlich den Mund gehalten. Und sie hat mir am Wochenende gesagt, daß sie nicht aus meinem Leben ausgeschlossen werden will. Ich bin fast zusammengebrochen.«
«Sie ist unglaublich klug.«
«Stimmt, aber sie war in den letzten Jahren eine solche Nervensäge, daß es mir gar nicht aufgefallen ist. Sie ist erwachsen geworden, es ging irgendwie ruck, zuck. Ich erinnere mich nicht, daß es bei mir so war. Bin wohl immer noch dabei, erwachsen zu werden.«
«Ich meine, es wird nie enden.«
«Bei Edward Wallace ist es bestimmt zu Ende.«
«Ach der.«
«Yolanda wohnt in der Küche.«
«O Gott.«
«Ich hatte beim Ausräumen eine Idee. Eine ganz üble Idee, und ich hab eine Ohrfeige verdient.«
«Oh?«
«Es ist Weihnachten. Die heilige Muttergottes müßte ein hübsches neues rotes Satinkleid kriegen, ein Glas Eierpunsch, eine Rentier-Anstecknadel und eine Nikolausmütze.«»Untersteh dich!«
36
Vic brachte Chris am Freitagmorgen nach Norfolk zum Flugplatz. Während der einstündigen Fahrt machten sie Pläne für ihre Wiedervereinigung.
Sie überreichten sich ihre Geschenke im Auto auf dem Parkplatz. Jede versprach, ihres erst am Weihnachtsmorgen auszupacken. Sie küßten sich, stiegen aus und gingen zur Abfertigung.
«Ach, Liebste, ich will gar nicht weg.«
Vic umarmte sie.»Dauert ja nicht lange, bis ich wieder hier bin und dich abhole, aber ich werde dich vermissen. Ich find's schrecklich, ohne dich zu sein.«
«Ich auch. «Chris wischte sich die Augen, schniefte ein bißchen, küßte Vic auf die Wange und lief dann über die Rollbahn.
Vic sah durch das große Fenster, bis das silberne Flugzeug abhob. Chris flog nach Baltimore und würde von dort den Vorortzug nach York nehmen.
Von Norfolk aus fuhr Vic nach Hause. Sie nahm die Nebenstraßen durch die weihnachtlich geschmückten Ortschaften, alles in Rot, Grün und Gold. Elfen tanzten auf Rasenflächen, Weihnachtsmänner und Rentiere schienen auf Rathäusern zu landen, Kirchen hatten ihre Krippen im Freien aufgestellt und Stadtplätze prunkten mit großen Bäumen, die mit Lichtern und allerleiZierrat versehen waren. Sie dachte an die Arbeit, die vollkommen Fremde in diese ganze Pracht gesteckt hatten, und sie war plötzlich unendlich dankbar. Überall ringsum bemühten sich die Menschen, alles schön festlich zu gestalten. Und wenn nicht Weihnachten war, mähten sie Rasen, trimmten Hecken, strichen Zäune, Ställe und Häuser, legten Blumen- und Gemüsegärten an. Sie hatte den Nutzen von diesen Mühen, wenn auch nur für einen flüchtigen Augenblick.
Am liebsten hätte sie den Impala vor dem nächsten Rathaus geparkt und wäre durch die alte Flügeltür gestürmt, um allen zu danken. Sie wußte aber, daß es an der Zeit war, statt dessen ihren eigenen Beitrag zu leisten, sei er groß oder klein. Es war wirklich höchste Zeit, erwachsen zu werden.
Das plötzliche Fehlen einer Perspektive ließ sie sich nicht etwa ernst und nüchtern fühlen; sie fühlte sich großartig. Das College kam ihr jetzt wie ein Pferch vor. Sie war aus dem Pferch ausgebrochen. Sie wollte ihren Weg in der Welt machen, so gut sie konnte, und für andere tun, was sie konnte.
Einer für alle, alle für einen. Alexandre Dumas hatte Recht gehabt, grübelte sie, als sie auf das McKenna-Gelände fuhr. Die Sonne stand hoch am Himmel. Sie wollte Onkel Don fragen, was Bunny sich zu Weihnachten wünschte. Vermutlich ein Zusatzgerät für ihr Fernglas.
Kaum war sie aus dem Auto gestiegen, als Hojo aus dem Ausstellungsraum geschossen kam und rief:»Vic, komm rein!«
Vic eilte hinein, ein bißchen geschoben von dem Wind, der ihr auf den Fersen war.»Was gibt's?«
«Du wirst es nicht glauben. Komm mit. «Hojo nahm ihre Hand. Unter ihrem eng anliegenden Pullover zeichneten sich ihre zum übrigen Körper perfekt proportionierten Brüste ab. Hojo zog Vic zu der pieksauberen Werkstatt.»Himmeldonnerwetter, ist das zu fassen?«
In der Werkstatt stand ein nagelneuer blau-silberner Dodge- Ram-Transporter, ein Dreivierteltonner. Schweißer arbeiteten daran, orangerote Funken stoben.
«Was wird das denn?«, fragte Vic.
«Der alte Wallace kam heute hier reinmarschiert, hat den Transporter gekauft und dann gleich die Umrüstung bezahlt. Er läßt eine Rampe montieren, die beim Rauf- und Runterlassen seinen Rücken nicht strapaziert. sie hat eine hydraulische Pumpe, und du weißt ja, wie teuer so was sein kann, und dann läßt er diese schmalen Metallstangen quer übers Rückfenster anbringen. Ich weiß nicht wozu. Und er läßt Stahlseiten an die Ladefläche schweißen, die kriegt man nie mehr runter.«
«Bißchen wie 'n kleiner Heuwagen.«
«Er steckt noch mal fünftausend Dollar rein, und ich sag dir was, Schätzchen, der Wagen ist eh schon nicht billig — und, und, und er läßt ein Telefon montieren. Ein Telefon in seinem Transporter. Der kriegt eine Antenne so lang wie 'ne Angelrute, die pendelt dann immer hin und her, wenn er schneller als fünfzehn Sachen fährt.«
«Ich vermute, er steigt wieder ins Geschäft ein. Der Ruhestand bringt ihn um. «Vic wünschte, sie bekäme den grandiosen Transporter zu Weihnachten geschenkt.
«Von wegen. Er macht das für Yolanda. Sie kann die Rampe rauf- und runtergehen. Er sagt, wenn sie eine Spritztour machen will, kutschiert er sie.«
«'ne heilige Kuh. «Vic lachte und zwinkerte ihr zu.
«Das kann man wohl sagen. «Hojo lachte mit ihr.»Wenn er seine Kuh durch Surry County schleppen will, was kümmert's mich? Aber Georgia und Sissy wird's kümmern, das kannst du mir glauben; denn dieses Vehikel kostet so viel wie ein nagelneuer Cadillac. Die bringen ihn um, ich schwör's.«
«Schon möglich.«
«Aber nicht während meiner Arbeitszeit. Ich will nicht das ganze Blut aufwischen.«
« Vic!«, rief Bunny in der Tür zur Kundendienstabteilung.
«Sie ist wie eine Zecke«, stöhnte Hojo.»Ich weiß, sie ist deine Tante, aber die letzte Woche ist sie hier wie festgenagelt. Und der Nagel zu meinem Sarg. Ich mach meine Arbeit, verdien meinen Lohn.«
«Vic! Ich muß dich augenblicklich sprechen.«
Hojo sah Vic mitfühlend an.»Hört sich an, als wollte sie dir wieder mal die Leviten lesen.«
«Sieht ganz danach aus, hm?«
«Mein Beileid. «Hojo klatschte ihr aufmunternd dreimal auf die Hand, oben, unten und in der Mitte.
«Danke. «Mit hoch erhobenem Kopf ging Vic zu ihrer Tante.
Bunny packte Vic am Arm und zog sie in den schmalen Gang zwischen dem Ersatzteillager und der Kundendienstabteilung.»Was machst du bloß, und warum hast du's mir nicht erzählt? Du hättest was sagen können, als du gestern hier warst. Ich bin so wütend auf dich, ich könnte kotzen.«
«Es schien mir nicht der richtige Moment zu sein.«
«War es aber. «Bunny preßte die Lippen zusammen.
«Nicht vor Hojo und Georgia, und — Tante Bunny, ich war so fertig, nachdem ich es Mom und Dad gesagt hatte. Ich wollte nicht unhöflich sein.«
«Du hättest dich bei mir ausquatschen können.«
«Ich bin untröstlich.«
«Untröstlich? Ich bin empört. Wie konntest du so was Dummes, Dämliches, Kindisches tun? Und so kurz vorm Examen. Ich sollte dir mit meinem Fernglas eins über den Schädel braten und dir ein bißchen Vernunft einbläuen.«
«Ja, Ma'am.«
«Das bringt deine Mutter um.«
Vic brauste auf:»Nein, tut es nicht. Wirklich, Tante Bunny, mach es nicht schlimmer als es ist. Mom und ich haben es durchgesprochen, und sie mag zwar im Moment nicht gerade stolz auf mich sein, aber sie ist nicht am Boden zerstört.«