Im Laufe der Zeit wurde er für mich eine Art Onkel. Ich machte meine erste größere Reise mit ihm. In meinen ersten Schulferien. In sein Heimatdorf Falkenhain bei Würzen bei Leipzig. Hier hatten seine Eltern ein Kurzwarengeschäft und den herrlichsten Obstgarten, den ich bis dahin gesehen hatte. Ich durfte die Leitern hochklettern und miternten. Die Gute Luise, den Schönen von Boskop, den Grafensteiner, die Goldparmäne, die Alexander, und wie die edlen Birnen und Äpfel sonst hießen.
Es waren Herbstferien, und wir sammelten im Walde Pilze, bis uns der Rücken wehtat. Wir wanderten bis nach Schilda, wo bekanntlich die Schildbürger herstammen. Und in der Dachkammer weinte ich meine ersten Heimwehtränen. Hier schrieb ich die erste Postkarte meines Lebens und tröstete meine Mutter. Sie brauche beileibe keine Angst um mich zu haben. In Falkenhain gäbe es keine Straßenbahnen, sondern ab und zu höchstens einen Mistwagen, und vor dem nähme ich mich schon in acht.
Der Lehrer Paul Schurig wurde also im Laufe der Jahre für mich eine Art Onkel. Und beinahe wäre er auch eine Art Vetter geworden! Denn beinahe hätte er meine Kusine Dora geheiratet. Sie wollte es gern. Er wollte es gern.
Aber Doras Vater, der wollte es gar nicht gern. Doras Vater war nämlich der ehemalige Kaninchenhändler Franz Augustin und hielt von Volksschullehrern und anderen >Hungerleidern< nicht das mindeste.
Als sich während der Großen Pferdeausstellung in Keick,
im Segen der Goldenen und Silbernen Medaillen, unser Untermieter dem ersehnten Schwiegervater mit den Worten: »Mein Name ist Schurig!« vorstellte, schob mein Onkel Franz die braune Melone aus der Stirn, musterte den großen, hübschen und blonden Heiratskandidaten von oben bis unten, sprach die denkwürdigen Worte: »Von mir aus können Sie Hase heißen!«, drehte ihm und uns den Rücken und ging zu seinen prämiierten Pferden.
Damit fiel der Plan ins Wasser. Gegen meinen Onkel Franz war kein Kraut gewachsen. Und da er meine Mutter im Verdacht hatte, an dem Heiratsprojekt nicht ganz unbeteiligt zu sein, bekam sie von ihm künftig mancherlei zu hören. Onkel Franz war ein Despot, ein Tyrann, ein Pferde-Napoleon. Und im Grunde ein prächtiger Kerl. Daß sich niemand traute, ihm energisch zu widersprechen, war nicht seine Schuld. Vielleicht wäre er selig gewesen, wenn ihm jemand endlich einmal richtig die Meinung gegeigt hätte! Vielleicht wartete er sein Leben lang darauf! Aber keiner tat ihm den Gefallen. Er brüllte, und die ändern zitterten. Sie zitterten noch, wenn er Spaße machte. Sie zitterten sogar, wenn er unterm Christbaum »O du fröhliche« schmetterte!
Er genoß es, und er bedauerte es. Ich wiederhole, falls ihr es überlesen haben solltet: Daß ihm niemand widersprach, war nicht seine Schuld. Und damit verlasse ich meinen Onkel Franz und wende mich erneut dem eigentlichen Gegenstande des sechsten Kapitels zu: den Lehrern. Dem Onkel Franz werden wir noch einmal begegnen. Und etwas ausführlicher. Er eignet sich nicht zur Nebenfigur. Das hat er mit anderen großen Männern gemeinsam. Zum Beispiel mit Bismarck, dem Gründer des Deutschen Reiches.
Als Bismarck eine internationale Konferenz einberufen hatte und sich mit den übrigen Staatsmännern an den Verhandlungstisch setzen wollte, erschraken alle Teilnehmer. Denn der Tisch, so groß er war, war rund! Und an einem runden Tisch ist beim besten Willen keine Sitz- und Rangordnung möglich! Doch Bismarck lächelte, nahm Platz und sagte: »Wo ich sitze, ist immer oben.« Das hätte auch mein Onkel Franz sagen können. Es hätte ihn auch nicht gestört, wenn am Tisch nur ein einziger Stuhl gestanden hätte. Er hätte schon Platz gefunden, mein Onkel.
Ich wuchs also mit Lehrern auf. Ich lernte sie nicht erst in der Schule kennen. Ich hatte sie zu Hause. Ich sah die blauen Schulhefte und die rote Korrekturtinte, lange bevor ich selber schreiben und Fehler machen konnte. Blaue Berge von Diktatheften, Rechenheften und Aufsatzheften. Vor Michaelis und Ostern braune Berge von Zensurheften. Und immer und überall Lesebücher, Lehrbücher, Lehrerzeitschriften, Zeitschriften für Pädagogik, Psychologie, Heimatkunde und sächsische Geschichte. Wenn Herr Schurig nicht daheim war, schlich ich mich in sein Zimmer, setzte mich aufs grüne Sofa und starrte, ängstlich und hingerissen zugleich, auf die Landschaft aus bedrucktem und beschriebenem Papier. Da lag ein fremder Erdteil vor mir zum Greifen nahe, doch ich hatte ihn noch nicht entdeckt. Und wenn mich die Leute, wie sie es ja bei Kindern gerne tun, fragten: »Was willst du denn später einmal werden?«, antwortete ich aus Herzensgrunde: »Lehrer!«
Ich konnte noch nicht lesen und schreiben, und schon wollte ich Lehrer werden. Nichts anderes. Und trotzdem war es ein Mißverständnis. Ja, es war der größte Irrtum meines Lebens. Und er klärte sich erst auf, als es fast zu spät war. Als ich, mit siebzehn Jahren, vor einer Schulklasse stand und, da die älteren Seminaristen im Felde standen, Unterricht erteilen mußte. Die Professoren, die als pädagogische Beobachter dabeisaßen, merkten nichts von meinem Irrtum und nichts davon, daß ich selber, in dieser Stunde, ihn endlich begriff und daß mir fast das Herz stehenblieb. Doch die Kinder in den Bänken, die spürten es wie ich. Sie blickten mich verwundert an. Sie antworteten brav. Sie hoben die Hand. Sie standen auf. Sie setzten sich. Es ging wie am Schnürchen. Die Professoren nickten wohlwollend. Und trotzdem war alles grundverkehrt. Und die Kinder wußten es. >Der Jüngling auf dem Katheder<, dachten sie, >das ist kein Lehrer, und er wird nie ein richtiger Lehrer werden. < Und sie hatten recht.
Ich war kein Lehrer, sondern ein Lerner. Ich wollte nicht lehren, sondern lernen. Ich hatte Lehrer werden wollen, um möglichst lange ein Schüler bleiben zu können. Ich wollte Neues, immer wieder Neues aufnehmen und um keinen Preis Altes, immer wieder Altes weitergeben. Ich war hungrig, ich war kein Bäcker. Ich war wissensdurstig, ich war kein Schankwirt. Ich war ungeduldig und unruhig, ich war kein künftiger Erzieher. Denn Lehrer und Erzieher müssen ruhig und geduldig sein. Sie dürfen nicht an sich denken, sondern an die Kinder. Und sie dürfen Geduld nicht mit Bequemlichkeit verwechseln. Lehrer aus Bequemlichkeit gibt es genug. Echte, berufene, geborene Lehrer sind fast so selten wie Helden und Heilige.
Vor einigen Jahren unterhielt ich mich mit einem Basler Universitätsprofessor, einem berühmten Fachgelehrten. Er befand sich seit kurzem im Ruhestand, und ich fragte ihn, was er jetzt tue. Da blitzten seine Augen vor lauter Wonne, und er rief: »Ich studiere! Endlich hab ich dafür Zeit!« Er saß, siebzigjährig, Tag für Tag in den Hörsälen und lernte Neues. Er hätte der Vater der Dozenten sein können, denen er lauschte, und der Großvater der Studenten, zwischen denen er saß. Er war Mitglied vieler Akademien. Sein Name wurde in der ganzen Welt mit Respekt genannt. Er hatte sein Leben lang gelehrt, was er wußte. Nun endlich konnte er, was er nicht wußte, lernen.
Er war im siebenten Himmel. Mochten andere über ihn lächeln und ihn für etwas wunderlich halten, - ich verstand ihn, als war’s mein großer Bruder.
Ich verstand den alten Herrn, wie dreißig Jahre früher meine Mutter mich verstand, als ich, noch in Feldgrau, vor sie hintrat und, bedrückt und schuldbewußt, sagte: »Ich kann nicht Lehrer werden!« Sie war eine einfache Frau, und sie war eine herrliche Mutter. Sie war bald fünfzig Jahre alt und hatte geschuftet und gespart, damit ich Lehrer werden könnte. Nun war es soweit. Nun fehlte nur noch ein Examen, das ich in ein paar Wochen spielend und mit Glanz bestanden haben würde. Dann konnte sie endlich aufatmen. Dann konnte sie die Hände in den Schoß legen. Dann konnte ich für mich selber sorgen. Und da sagte ich: »Ich kann nicht Lehrer werden!«