Vielleicht hat er damit sogar recht, dachte Andrej. Er hatte Angst, wenn auch aus einem ganz anderen Grund, als Frederic annahm.
»Wir haben Zeit«, sagte er leise. Diese Worte klangen selbst in seinen eigenen Ohren nach nichts anderem als einer billigen Ausrede, und Frederic ließ sich nicht einmal zu einer Antwort herab. Trotzdem fuhr Andrej nach ein paar Sekunden fort: »Wir wissen, wohin sie wollen.«
»Wenn der Kerl die Wahrheit gesagt hat«, grollte Frederic. »Wahrscheinlich hat er gelogen, damit wir in eine Falle laufen.«
»Das glaube ich nicht.« Andrej schüttelte überzeugt den Kopf. Der Mann hatte Todesängste ausgestanden. Und er hatte geglaubt, was Andrej über den Teufel und seine Seele gesagt hatte. Ein Mensch in dieser Verfassung war nicht imstande zu lügen.
»Wir brauchen einen Platz für die Nacht«, sagte er, ganz bewußt das Thema, aber auch Tonfall und Lautstärke wechselnd. »So, wie wir aussehen, erregen wir zu großes Aufsehen.«
»Um diese Zeit?« Frederic schüttelte heftig den Kopf. »Niemand wird uns aufnehmen.«
»Niemand wird einen frierenden Mann und einen verletzten Jungen fortschicken, die mitten in der Nacht an die Tür klopfen«, widersprach Andrej. »Du brauchst frische Kleider und ein paar Stunden Schlaf - und ich auch«, fügte er etwas leiser hinzu. Vor allem aber brauchte er Zeit, um sich einen vernünftigen Plan zurechtzulegen und sich über vieles klar zu werden. Frederic schien seine Gedanken zu erraten; er widersprach zwar nicht, doch in seinen Augen blitzte es so zornig auf, daß Andrej es trotz der Dunkelheit deutlich sehen konnte. Die Verachtung des Jungen schmerzte. Viel stärker, als sie hätte sollen.
Sie versanken wieder in das gleiche, unangenehme Schweigen, in dem sie einen Großteil des Tages verbracht hatten. Die Kälte wurde immer schlimmer. Andrejs Zähne begannen zu klappern, und der Wind, der wie mit unsichtbaren Nadeln in seine Hände und sein ungeschütztes Gesicht biß, schien sich mit der Kälte in seinem Inneren zu vereinen, als wollte er alles Leben mit dem eisigen Feuer der Hölle aus ihm herausbrennen.
Eine gute halbe Stunde ritt Frederic schweigend neben ihm her. Wäre die Nacht klarer gewesen, dann hätten sie das Meer und vielleicht sogar Constãntã schon sehen können; so aber war alles, was Delãny von der Hafenstadt wahrnahm, ein blaßrosa Schimmer am Himmel. Es mußte wohl so sein, wie Michail Nadasdy behauptet hatte: Die großen Städte schliefen niemals. Andrej war über diese Erkenntnis jedoch nicht besonders erfreut. Ihre Chancen, unbemerkt in die Stadt zu kommen, sanken auf diese Weise dramatisch.
Frederic richtete sich plötzlich im Sattel auf und blickte konzentriert nach vorne, und erst als Andrej seinem Blick folgte, sah auch er den Lichtschein, der ein Stück vor ihnen am Wegesrand aufgetaucht war. Ein Haus, vielleicht auch ein kleines Gehöft, in dem trotz der späten Stunde noch Licht brannte.
Andrej blieb einen Moment lang stehen und horchte in die Nacht hinaus. Aber da war nichts; kein verdächtiges Geräusch, das auf die Anwesenheit von Menschen hinwies, die hier auf sie lauern mochten.
Trotzdem waren alle seine Sinne bis zum Zerreißen angespannt, als sie sich dem Gebäude näherten. Daß Domenicus mit seinen Leuten nicht hier war, bedeutete nicht, daß er nicht ein paar seiner Männer zurückgelassen hatte, die auf Frederic und ihn warteten. Der goldene Ritter hatte gesagt, daß sie sich wiedersehen würden, und dies war die einzige Straße, die von Norden her nach Constãntã führte. Draskovic hatte berichtet, daß sie die Gefangenen auf ein Schiff bringen würden, und Constãntã war der größte Hafen weit und breit: Eine aus transsilvanischer Sicht riesige Hafenstadt am Schwarzen Meer, auf die die Türken begehrlich blickten, konnte man von hier aus doch wichtige Handelswege ins Landesinnere und bis hoch zum Donaudelta und den Karpaten kontrollieren.
Wenn es eine Falle war, dann war sie so gut vorbereitet, daß er sie nicht erkennen konnte. Die Nacht blieb still. Niemand stürzte sich aus der Dunkelheit auf sie, und auch, als sie sich dem Gebäude selbst näherten, blieb alles ruhig.
Es war ein großes, offenbar vor noch nicht allzu langer Zeit errichtetes Gasthaus, an das sich noch mehrere andere, in der Dunkelheit allerdings nur schemenhaft zu erkennende Gebäude anschlössen. Durch die geschlossenen Fensterläden drang unverständliches Stimmengemurmel, und vor der Tür waren vier Pferde und zwei oder drei schlecht genährte Maulesel angebunden. Andrej unterzog insbesondere die Pferde einer schnellen, aufmerksamen Musterung, deren Ergebnis ihn jedoch beruhigte. Die Tiere sahen nicht so aus, als gehörten sie Kriegern.
Er band den Hengst neben den drei Mauleseln an, hob Frederic ohne viel Federlesens aus dem Sattel und überzeugte sich davon, daß sein mit eingetrocknetem Blut besudeltes Hemd vollkommen unter der Decke verborgen war, die sich der Junge umgeworfen hatte.
»Wenn wir hineingehen, überläßt du mir das Reden«, sagte er eindringlich.
Frederic starrte ihn trotzig an und preßte die Lippen aufeinander, aber er widersprach wenigstens nicht, und Andrej drehte sich wieder herum und betrat das Gasthaus.
Ein Schwall abgestandener Luft schlug ihm entgegen und ein Durcheinander von Gerüchen und Geräuschen - vor allem aber die behagliche Wärme eines Feuers, das in einem gewaltigen Kamin an der gegenüberliegenden Wand prasselte. Bedachte man die fortgeschrittene Stunde, dann hielt sich noch eine erstaunliche Anzahl von Gästen in der Herberge auf. Andrej schätzte, daß mindestens ein Dutzend Männer unterschiedlichen Alters an den einfachen Tischen saßen, sich lautstark unterhielten und tranken. Niemand schien daran Anstoß zu nehmen, daß Frederic und er noch zu so später Stunde hereinkamen. Die meisten Gäste sahen zwar kurz von ihrem Getränk auf oder unterbrachen ihre Unterhaltung, aber kaum einer schenkte ihnen mehr als einen flüchtigen Blick. Abgesehen von dem Wirt vielleicht, dessen Interesse aber wohl eher geschäftlicher Natur war. Nun, sie waren nicht mehr in Borsã, sondern in der Nähe einer großen Stadt, deren Einwohnerzahl in die Tausende ging. Wahrscheinlich verlief das Leben hier nach anderen Regeln als im Borsã-Tal.
Andrej bugsierte Frederic ins Haus, schloß mit der linken Hand die Tür hinter sich und deutete gleichzeitig mit einer Kopfbewegung auf den freien Tisch, der dem Kamin am nächsten war. Mittlerweile nahm kaum noch einer der Gäste von ihnen Notiz. Aber er konnte spüren, wie ihnen die mißtrauischen Blicke des Wirtes folgten, während sie zum Tisch gingen und sich daran niederließen.
Kaum hatten sie das getan, kam er auch schon hinter der Theke hervor und steuerte auf sie zu. Er war ein sehr großer, fast kahlköpfiger Mann mit schwieligen Händen und einem Gesicht, das älter aussah, als es wohl tatsächlich war. Er trug einfache Kleidung und darüber eine fettige Lederschürze.
»So spät noch unterwegs?« sagte er anstelle einer Begrüßung.
Andrej nickte. »Wir sind froh, daß wir Euer Gasthaus gefunden haben. Wir wollten nach Constãntã, aber der Weg scheint doch weiter zu sein, als wir geglaubt haben«, antwortete er, wobei er die Erschöpfung in seiner Stimme nicht einmal schauspielern mußte.
»Das geht vielen so«, sagte der Wirt. »Was kann ich für euch tun?«
»Ein Bier wäre nicht schlecht«, antwortete Andrej. »Und für meinen Bruder vielleicht ein Glas heiße Milch.«
»Ich nehme auch ein Bier«, protestierte Frederic.
»Ein Bier und eine Milch also«, sagte der Wirt ungerührt. »Könnt ihr denn auch bezahlen?«
Das unverhohlene Mißtrauen, das aus dieser Frage sprach, ärgerte Andrej.
Aber er verbiß sich die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag, griff statt dessen in die Tasche und zog einige der kleinen Münzen heraus, die sie Draskovic und dem toten Krieger abgenommen hatten. So vollkommen unberechtigt, wie es ihm im ersten Moment erschienen war, war das Mißtrauen des Mannes eigentlich gar nicht. Noch vor ein paar Tagen hätte er die bestellten Getränke nicht bezahlen können.