Andrej beeilte sich, dieser Aufforderung zu folgen. Rasch und mit demütig gesenktem Blick trat er an dem Wachtposten vorbei in das eigentliche Torhaus hinein, das größer war, als er erwartet hatte - und wesentlich älter.
Der Geruch von feuchtem Stein und Schimmel lag in der Luft, und die wuchtigen Balken, die gut fünf Meter über seinem Kopf die Decke trugen, waren vom Alter sowie dem Ruß und Staub der Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, pechschwarz geworden. Das Holz des gewaltigen zweiflügeligen Tores, das sie passierten, schien längst zu Stein geworden zu sein, aber Andrej entging nicht, daß die Scharniere gut geölt waren. Er glaubte das Rätsel, weshalb sich diese Trutzburg mitten innerhalb der Stadtmauern befand, inzwischen gelöst zu haben: Sie war, von den Hafenanlagen einmal abgesehen, der älteste Teil der Stadt. Constãntã war erst im Laufe der Zeit um diese Burg herum gewachsen, wie kleine Schößlinge, die rings um die Wurzeln eines uralten, mächtigen Baumes aus dem Boden sprießen.
Was Andrej jedoch weniger denn je verstand, war die Frage, warum dieses Bauwerk den Eindruck erweckte, als befände es sich schon jetzt im Belagerungszustand. Der Herzog von Constãntã schien sich bei den Einwohnern der Stadt keiner allzu großen Beliebtheit zu erfreuen - oder er schien schon sehr bald mit dem Auftauchen einer türkischen Streitmacht zu rechnen.
»Ihr kommt spät«, murmelte Ják, als Andrej ihn eingeholt hatte. Sie liefen schnellen Schrittes auf das zweite, innere Tor zu.
»Wir müssen uns jetzt beeilen.«
»Wieso?« Andrej sah seinen Begleiter nicht an. Er wußte zwar weniger denn je, wer der Grauhaarige war, hatte aber aus den Reaktionen der Männer am Tor geschlossen, daß es den einfachen Soldaten des Herzogs nicht erlaubt war, den direkten Blickkontakt mit Adligen zu suchen. Vielleicht jedoch fürchteten sich die Untergebenen des Herzogs auch nur.
»Weil ich gewisse Vorbereitungen getroffen habe«, antwortete Ják. Obwohl er jetzt sehr leise sprach, war seine Stimme noch immer so klar und durchdringend, daß Andrej fast fürchtete, man könne sie überall im Schloß hören. Das Reden gehörte sicherlich zu Jáks Aufgaben hier am Hof. »Das ganze Schloß ist in Aufruhr! Hätte ich vorhin auch nur geahnt, was Ihr mit Eurem feigen Mordanschlag auf Vater Domenicus angerichtet habt, hätte ich den Teufel getan, mich auf dieses Unternehmen einzulassen!«
»Warum habt Ihr es überhaupt getan?« fragte Andrej. Als Ják nicht direkt antwortete, sondern ihm nur einen spöttisch-fragenden Blick zuwarf, fügte er hinzu: »Ich meine: Ihr seid ein Edelmann, habe ich recht? Kein einfacher Bediensteter, wie Ihr Krusha und seinen Bruder glauben machen wollt, sondern ein Mitglied des Hofstaates. Vielleicht sogar ein enger Vertrauter des Herzogs selbst.«
»Ihr habt ein scharfes Auge, Delãny«, sagte Ják.
»Wieso bestehlt Ihr Euren Herrn? Wenn Ihr gefaßt werdet, wird man Euch hängen.«
»Hängen? Oh nein, so gnädig ist unser Herr nicht.« Ják lachte leise. »Um Eure Frage zu beantworten: Auch Edelleute müssen essen, ihre Ländereien unterhalten und ihre Bediensteten bezahlen. Es gibt manche, die die Ehre, für den Herzog arbeiten zu dürfen, als hinreichende Belohnung ansehen. Leider aber füllt Ehre keine leeren Bäuche. Und unser Herr ist nicht besonders großzügig.« Er deutete ein Achselzucken an. »Darüber hinaus haben etliche der Goldstücke, die jetzt in seiner Schatztruhe sind, ihren Weg aus meinem Geldbeutel dorthin gefunden. Und jetzt schweigt. Hier haben die Wände Ohren.«
Sie hatten den Hof mittlerweile zur Hälfte überquert, und Andrej sah sich verstohlen um. Die Anlage der Festung war einfach, aber sehr zweckmäßig konzipiert: Links vom Torhaus erhob sich ein halb aus Stein, halb aus einfachem Fachwerk erbautes Gebäude, das wahrscheinlich die Stallungen sowie die Waffen- und Vorratskammer beherbergte. Daneben befand sich eine Anzahl kleinerer Häuser - Gesinde -und Wirtschaftsgebäude, wie Andrej annahm -, die aussahen, als stammten sie aus verschiedenen Jahrhunderten; und dem Tor gegenüber lag schließlich der Palas, ein beinahe freundlich wirkendes, dreigeschossiges Haus mit großen Fenstern, einer einladenden Freitreppe und einer Anzahl kleiner, offensichtlich nur der Zierde dienender Türmchen und Erker.
Beherrscht wurde die gesamte Anlage jedoch von einem gewaltigen, mindestens hundert Fuß hohen Donjon, dessen Architekturstil und Baumaterial sichtlich älter waren als der gesamte Rest der Festung. Der Eingang befand sich auf zwanzig Fuß Höhe am Ende einer schmalen, leicht zu verteidigenden Treppe, und es gab nur wenige, an Schießscharten erinnernde Gucklöcher. Dieser Turm war für sich genommen schon eine Festung, eine Burg innerhalb der Burg, die zu stürmen so gut wie unmöglich sein mußte.
»Beeindruckend, nicht wahr?« fragte Ják. Andrejs prüfender Blick war ihm nicht entgangen. »Er wurde im Laufe seiner Geschichte ein dutzendmal belagert, aber niemals eingenommen.«
Andrej blickte nach oben, zu dem einzigen trüb erleuchteten Fenster unterhalb der zinnengesäumten Spitze des Turmes. »Ich frage mich, was das für ein Mensch sein mag, der es vorzieht, in einem so düsteren Gemäuer zu leben statt in einem Haus.« Er deutete auf den Palas.
»Vielleicht ein Mensch, der Sicherheit dem Luxus und der Verweichlichung vorzieht«, antwortete Ják und lachte spöttisch. »Die Welt ist schlecht, Andrej. Constäntä hat viele Neider.« Er machte eine knappe Geste. »Still jetzt!«
Sie hatten den Hof überquert und näherten sich dem Turm. Um ihn zu erreichen, mußten sie entweder einen ebenso überflüssigen wie auffälligen Bogen schlagen oder nahe an der Freitreppe vorbeigehen, die zum Palas hinaufführte ... Und selbstverständlich öffnete sich genau in dem Moment, in dem Andrej und Ják darunter vorbeiliefen, die Tür am oberen Ende der Treppe.
Ein halbes Dutzend Bewaffnete sowie einer der beiden Goldenen, dessen Namen er nicht kannte, und die Schwester des Inquisitors traten heraus. Andrej senkte sofort den Blick, unterdrückte aber den Impuls, seinen Schritt zu beschleunigen. Für einen kurzen, ihm dennoch unendlich lang erscheinenden Augenblick glaubte er, daß ihn der Ritter erkannt hatte, ja erkennen müßte, wenn er nur für einen Moment den Kopf zu ihm wandte. Doch der Goldene lief mit schnellen Schritten die Treppe hinab, ohne auch nur einmal aufzusehen. Maria und die Männer des Herzogs folgten ihm etwas langsamer. Domenicus' Schwester trug das Haar nun zu einem strengen Knoten hochgesteckt. Ihr blutbesudeltes Kleid hatte sie gegen ein schlichtes schwarzes Gewand getauscht, und ihr Gesicht verbarg sich hinter einem halbtransparenten, durchbrochenen Schleier. Sie sah noch schöner aus als bei ihrer Begegnung am Morgen auf dem Marktplatz.
»Macht Euch keine Hoffnungen, Andrej«, sagte Ják spöttisch. »Eine solche Frau ist nichts für Euch. Sie wäre es nicht einmal, wenn Ihr ihrem Bruder keinen Dolch in den Hals gerammt hättet.«
Andrej war irritiert. Sah man ihm seine Gefühle so deutlich an? Ein einziger Blick in Jáks Gesicht genügte, um diese Frage mit einem klaren Ja zu beantworten. Andrejs Verwirrung verwandelte sich in Schrecken. Was war mit ihm los? Er war auf dem Weg in die Höhle des Löwen, er brauchte jedes Quentchen Konzentration, um die nächste halbe Stunde zu überstehen - und er hatte nichts Besseres zu tun, als über eine Frau nachzudenken!
Sie betraten den Turm nicht über die Treppe, wie Andrej erwartet hatte, sondern Ják führte ihn zu einem kleinen, offenbar nachträglich an die Seite des Donjon angebauten Gebäude aus klobigen Felssteinen, öffnete eine niedrige Tür und winkte ungeduldig mit der Hand. Andrej bückte sich unter dem niedrigen Sturz, drehte sich dann aber noch einmal um und sah über den Hof. Maria und ihre Begleiter befanden sich auf halbem Wege zum Tor. Trotz der vorgerückten Stunde wollte die junge Frau das Schloß offensichtlich noch einmal verlassen - deshalb auch die Eskorte, die der Herzog ihr mitgegeben hatte. Der goldene Ritter hingegen steuerte mit schnellen Schritten auf den Pferdestall zu. Andrej sah ihm nach, bis er darin verschwunden war.