Andrej änderte blitzschnell seine Taktik. Er schritt rascher und mit energischen Bewegungen aus, begann mit der rechten Hand zu gestikulieren und sagte in scharfem Ton: »Was fällt dir ein, auf deinem Posten zu schlafen, Kerl? Wenn der Herzog davon erfährt, läßt er dich auspeitschen, ist dir das klar?«
Der Mann starrte ihn verwirrt an. Er war natürlich erschrocken, weil man ihn bei seiner kleinen Verfehlung ertappt hatte, aber Andrej las ebenso deutlich in seinen Augen, daß er sich fragte, wer zum Teufel der Kerl überhaupt war, der da auf ihn zukam; und sein Mißtrauen gewann schnell Oberhand über seine Verlegenheit.
»Wer ... ?« begann er.
»Ich habe eine Nachricht vom Herzog an dich«, fiel ihm Andrej ins Wort. Noch zwei Schritte, und er hatte ihn erreicht.
»Was für eine Nachricht?« fragte der Posten mißtrauisch. »Der Herzog war...«
Andrej stand jetzt dicht vor dem Posten und machte eine wedelnde, zornige Geste mit der rechten Hand, die dem einzigen Zweck diente, den Mann noch einmal abzulenken; mit der anderen riß er das Schwert aus dem Gürtel. Die Waffe fuhr in einer geraden, ungemein wuchtigen Bewegung nach oben. Der Kopf des Soldaten wurde mit einem dumpfen Knall gegen den Türrahmen geschmettert, als ihn der Schwertknauf mit der Wucht eines Hammerschlages unter dem Kinn traf.
Andrej stieß die Waffe in die Scheide zurück und fing den Soldaten auf, der auf der Stelle zusammenbrach. Er versuchte, den Speer des Überwältigten aufzufangen, verfehlte ihn aber, so daß die Waffe mit einem lauten Scheppern und Klirren zu Boden fiel.
Andrej hielt für einen Moment den Atem an. Das metallische Klirren hallte so lange und durchdringend in seinen Ohren wider, daß er felsenfest davon überzeugt war, es müsse im gesamten Schloß zu hören sein. Aber es geschah nichts. Draußen auf dem Wehrgang wurden keine Schreie laut, und er hörte auch keine Schritte, die hastig die Treppe heraufpolterten. Es waren nur seine Nerven. Dieb, dachte er bitter, war eindeutig nicht der richtige Beruf für ihn.
Er rückte das Gewicht des bewußtlosen Soldaten in seinen Armen zurecht, stieß die Tür zum Gemach des Herzogs mit dem Knie auf und bugsierte den Mann ächzend in den dahinterliegenden Raum. Andrej sah sich aufmerksam um und prüfte, ob er tatsächlich allein war, dann ließ er den Mann zu Boden sinken, trat noch einmal aus dem Zimmer auf den Gang und hob die Hellebarde auf. Nachdem er die Tür sorgsam hinter sich geschlossen hatte, ließ er sich neben dem Soldaten auf die Knie sinken und untersuchte ihn flüchtig. Der Mann war bewußtlos, und das so tief, daß er vermutlich erst nach Stunden wieder erwachen würde - aber er lebte. Ják würde sich wohl oder übel damit abfinden müssen, daß er in diesem Punkt von ihrem ursprünglichen Plan abgewichen war.
Andrej stand wieder auf, ging zur Tür und legte den Riegel vor. Erst danach unterzog er das Zimmer einer zweiten, sehr viel eingehenderen Untersuchung.
Und was er sah, entsprach im großen und ganzen dem Bild, das er sich von dem Bewohner dieser Gemächer gemacht hatte, ohne ihn zu kennen: Die Einrichtung war einfach und nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit ausgewählt, nicht nach denen der Schönheit. Trotzdem lag ein Hauch von Luxus über dem Raum, was vermutlich einfach an seiner Größe lag. Das Schlafgemach des Herzogs mußte einen Großteil des gesamten Stockwerkes einnehmen. Die Möbel, obwohl für sich betrachtet wuchtig und schwer, wirkten in der Weite des rechteckigen Raumes geradezu winzig, so daß sich jeder Besucher - Andrej eingeschlossen - hier einfach verloren vorkommen mußte: Ein Effekt, der vermutlich beabsichtigt war und mehr über den Bewohner dieses Raumes aussagte, als dieser ahnen mochte.
Innerhalb weniger Sekunden hatte sich Andrej alles eingeprägt, was er wissen mußte. Die Schatztruhe stand genau dort, wo Ják es ihm beschrieben hatte: auf einer kleinen Kommode neben dem Bett. Doch bevor er dorthin ging, trat er ans Fenster und blickte hinaus. Wäre es heller gewesen, hätte Andrej die ganze Stadt überblicken können. So hingegen sah er nur eine scheinbar endlose Fläche kantiger Schatten, in der überraschend wenige schwache Lichter glommen. Das Fenster lag allerdings auch in Richtung auf den Hafen und das Meer; vermutlich hätte sich ihm zum Marktplatz hin ein anderer Anblick geboten.
Andrej beugte sich weiter vor und begriff erst jetzt den Sinn von Krushas Warnung, er solle vorsichtig sein, in seiner vollen Tragweite. Der Turm, der zugleich Teil der äußeren Verteidigungsanlage war, überragte die Mauer mit den aufgesetzten hölzernen Hürden um ein gutes Stück - mindestens zwanzig Fuß, wenn nicht mehr. Trotzdem mochte ein zufälliger Blick von jemandem, der dort unten vorbeiging, durchaus genügen, um ihn zu entdecken.
Im Augenblick war allerdings nichts von einer Patrouille zu sehen, so daß Andrej es wagte, sich noch ein Stück weiter vorzubeugen und nach unten zu schauen. Der rückwärtige Teil des Schlosses endete in einem Wassergraben, vielleicht auch einem kleinen, künstlich angelegten See, auf dem er die Umrisse eines Bootes ausmachen konnte. Krusha und sein Bruder waren bereits dort unten.
Obwohl Andrej fast sicher war, daß sie es nicht sehen konnten, winkte er ihnen zu und trat dann vom Fenster zurück. Es wurde Zeit, daß er seine Beute einsammelte und von hier verschwand. Also begab er sich, ohne weiter zu zögern, zu der Truhe und wollte deren eisenbeschlagenen Deckel öffnen, stellte aber ohne sonderliche Überraschung fest, daß er verschlossen war.
Er zog seinen Dolch aus dem Gürtel und versuchte das Schloß zu öffnen; doch es erwies sich als erstaunlich widerstandsfähig, so daß er schließlich das Schwert zu Hilfe nahm. Wenn die Stabilität der Truhe Rückschlüsse auf den Wert ihres Inhaltes zuließ, mußte sich ein Vermögen darin verbergen. Andrej schlug drei- oder viermal mit aller Kraft den Schwertknauf auf das Schloß, ehe der Mechanismus endlich mit einem leisen Knirschen kapitulierte und er die Truhe öffnen konnte.
Sie war gut zur Hälfte mit kleinen, runden Goldmünzen unterschiedlicher Größe gefüllt; hinzu kamen zwei kleine Säckchen aus Samt, die Edelsteine der verschiedensten Art und Farbe enthielten. Für einen kurzen Augenblick drohte Andrej der Versuchung zu erliegen, einige der Münzen einzustecken. Wenn Ják Wort hielt und es ihm gelang, Frederics Angehörige zu befreien, würden sie nicht nur Glück brauchen, um den Rückweg zu bewältigen, sondern auch Geld. Doch er entschied sich dagegen. Angesichts seiner Situation war das vielleicht ein Fehler, aber er war nun einmal kein Dieb.
Hastig steckte er das Schwert wieder ein, zog die drei mit Kork gefüllten Lederbeutel unter seiner Uniform hervor und verteilte den Inhalt der Schatztruhe auf sie. Als er fertig war und die Säckchen sorgsam verknotete, stellte er fest, daß sie ziemlich schwer waren. Er war nicht sicher, ob sie tatsächlich auf dem Wasser schwimmen würden, hoffte aber, daß Krusha - und vor allem Ják - wußten, was sie taten.
Andrej überprüfte die Knoten noch einmal auf ihre Festigkeit, ehe er ans Fenster trat und vorsichtig hinausspähte. Nur wenige Armeslängen unter ihm schritten zwei Soldaten des Herzogs über den Wehrgang. Die Männer hatten es nicht besonders eilig; sie schlenderten gemächlich dahin und blieben von Zeit zu Zeit sogar stehen, um einen Blick auf die Stadt hinabzuwerfen. Es dauerte eine geraume Weile, bis sie endlich außer Sichtweite waren - und noch erheblich länger, bis Andrej sicher war, daß sie ihn mit Bestimmtheit nicht mehr sehen konnten.
Dann holte er entschlossen aus und warf den ersten Beutel so weit aus dem Fenster, wie er nur konnte. Das Boot mit Krusha und seinem Bruder war nicht zu sehen, aber Andrej zweifelte nicht daran, daß ihre Blicke gebannt auf das erleuchtete Fenster unter der Turmspitze gerichtet waren.
Als er den zweiten Beutel aus dem Fenster werfen wollte, raschelte es hinter ihm, und eine leise, aber sehr klare Stimme sagte: »Das reicht jetzt, Delãny.«