Er verstand sofort, was sie meinte, aber er antwortete nicht gleich, sondern starrte den Goldenen an. Der Mann hielt seinem Blick mit scheinbar ungerührter Miene stand, aber in seinen Augen stand ein düsteres Versprechen geschrieben, und die Kälte, die Andrejs Seele berührte, schien für einen Moment noch an Intensität zuzunehmen.
»Ich möchte allein mit Euch reden«, sagte er schließlich.
Der Ritter lachte hart auf und sagte etwas in einer Sprache, die Andrej fremd war.
»Sprecht so, daß er uns versteht«, antwortete Maria und ohne sich zu ihrem Begleiter umzudrehen. »Laßt uns allein.«
»Ich bitte Euch, Maria!« widersprach der Goldene. »Dieser Mann ist...«
»An Händen und Füßen gefesselt und zusätzlich an die Wand gekettet, Kerber! Was soll er mir schon tun?«
Kerber schürzte wütend die Lippen. »Er ist ein Mörder!« sagte er. »Und er ist gefährlich, in Ketten oder nicht.«
»Was soll er mir schon tun?« wiederholte Maria scharf. »Seine Ketten zerreißen? Oder sich in einen Wolf verwandeln, um mir die Kehle durchzubeißen? Geht, Kerber! Ich befehle es Euch!«
Der Blick des Ritters machte zumindest Andrej klar, daß sie ihm eigentlich nichts zu befehlen hatte. Dennoch zuckte er mit den Schultern, drehte sich auf dem Absatz herum und schlug mit der geballten Faust gegen die Tür. Als sie geöffnet wurde, sah Andrej, daß draußen auf dem Gang mehrere Soldaten warteten. Sie trugen nicht das Weiß und Orange der herzoglichen Truppen, sondern die schmucklosen schwarzen Lederrüstungen der Soldaten, die in Domenicus' Begleitung gekommen waren.
»Also?« sagte Maria. »Jetzt sind wir allein.«
»Was Eurem Bruder widerfahren ist, tut mir aufrichtig leid, Maria, und es hat nichts mit uns zu tun«, begann Andrej. »Ich wollte nicht, daß das geschieht, bitte, glaubt mir.«
Marias Gesicht verhärtete sich. »Ich bin nicht gekommen, um zu erfahren, was Ihr wolltet, Delãny. Warum hat er es getan? Ein ... ein Kind, großer Gott! Wie kann ein Kind einen Menschen so hassen, daß es versucht, ihn umzubringen?«
»Vielleicht, weil er seine ganze Familie ermordet hat«, antwortete Andrej.
»Domenicus?« Maria schüttelte mit einem ungläubigen Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht den Kopf. »Niemals. Ihr lügt!«
»Ich war dort«, sagte Andrej. »Ich habe gesehen, was die Soldaten Eures Bruders getan haben. Ich sage nicht, daß ich Frederics Verhalten billige, aber ich kann ihn verstehen.«
Irgend etwas in Marias Blick erlosch, noch bevor er diesen Satz zu Ende gesprochen hatte. Sie war gekommen, um ... Nein, Andrej wußte nicht, warum sie gekommen war. Aber keineswegs nur, um ihm Vorwürfe zu machen oder ihm zu drohen, sondern noch aus einem weiteren, vollkommen anders gearteten Grund. Doch was immer es gewesen war, es war fort - und nun machten sich wieder Zorn und Verbitterung in ihrem Blick bemerkbar.
Bevor sie etwas sagen konnte, fuhr Andrej fort: »Was wißt Ihr über die goldenen Ritter?«
»Nicht viel«, gestand Maria. »Sie sind die Leibwächter meines Bruders. Und die treuesten, die Ihr Euch vorstellen könnt. Sie würden ihr Leben geben, um ihn zu beschützen.«
Andrej lächelte. »Ja - aber im entscheidenden Moment haben sie es nicht getan.«
Marias Gesicht verfinsterte sich weiter. Sie hatte seine Worte - natürlich - als pure Harne verstanden, aber so hatte sie Andrej nicht gemeint. Rasch hob er die Hand und sagte über das Klirren der Ketten hinweg: »Bitte verzeiht! Das war dumm. Aber beantwortet mir eine Frage: Ihr wart nicht dabei, habe ich recht? Ihr seid hier in Constãntã geblieben, während Euer Bruder nach Borsã gereist ist.«
»Mein Bruder nimmt mich niemals auf seine Missionen mit«, antwortete Maria. Sie starrte Andrej noch immer mit einem Zorn an, der an Haß grenzte - ohne diese Grenze bereits überschritten zu haben -, doch ihre Stimme klang ein wenig verunsichert.
»Mit gutem Grund«, erklärte Andrej. »Ich weiß nicht viel vom Geschäft Eures Bruders, Maria, und ich weiß auch nicht genau, was ein Inquisitor tut und warum. Aber ich weiß, was ich gesehen habe. Borsã ist mein Geburtsort. Als ich ihn verließ, lebten dort weit über hundert Menschen. Als ich vor einer Woche zurückkam, fand ich nur noch einen sterbenden alten Mann vor, den man auf grausamste Weise gefoltert hatte, und einen Jungen, der mit angesehen hatte, wie sein Vater und sein Bruder abgeschlachtet wurden.«
Maria starrte ihn an. Sie schwieg, aber Andrej konnte regelrecht sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Sie glaubte ihm nicht - und wie sollte sie auch ?
»Die Männer Eures Bruders«, fuhr er erbarmungslos fort, »haben auch meinen Sohn und die Hälfte der Einwohner Borsãs getötet und die andere Hälfte verschleppt. Ich weiß nicht, warum sie das getan haben - und es interessiert mich auch nicht. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, so etwas zu tun, weder im Namen der Kirche, noch in dem eines weltlichen Herrn.«
»Domenicus ist in Gottes Auftrag unterwegs«, antwortete Maria. Diese Erklärung klang ... wie auswendig gelernt. Vermutlich hatte sie diese Worte so oft gehört, daß sie sie einfach wiederholte, ohne darüber nachzudenken. Vielleicht hatte sie das noch nie getan.
»In Gottes Auftrag?« Andrej schüttelte den Kopf.
»Bestimmt nicht, Maria. Und wenn es wirklich Gottes Wille ist, daß so etwas geschieht, dann kann mir euer Gott gestohlen bleiben.«
»Allein dafür würde Domenicus Euch auf den Scheiterhaufen bringen«, sagte Maria. Aber es klang nicht wie eine Drohung, sondern eher erschrocken. Dann schüttelte sie so heftig den Kopf, daß ihre Haare flogen.
»Ich hätte nicht kommen sollen«, sagte sie. »Ich dachte, ich könnte verstehen, warum Ihr das getan habt, aber das war ein Fehler. Ich war dumm.«
Sie seufzte traurig, senkte den Blick und machte Anstalten, zu gehen. Andrej streckte instinktiv den Arm aus, als wollte er sie zurückhalten, aber die Kette stoppte seine Bewegung, noch bevor er sie zu Ende führen konnte. Dennoch blieb Maria so abrupt stehen, als hätte er sie zurückgerissen.
»Wartet«, sagte er. »Ich bitte Euch!«
»Wozu?« fragte Maria traurig. »Um mir noch mehr Lügen anzuhören?« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Genügt es Euch nicht, daß mein Bruder sterben wird? Müßt Ihr auch noch sein Ansehen besudeln? Ihr seid nicht besser als Demagyar.«
Andrej verstand den letzten Satz nicht, aber das spielte in diesem Augenblick auch keine Rolle. »Ihr glaubt mir nicht«, sagte er, »und das kann ich verstehen. Aber ich bitte Euch um eines: Geht ins Verlies.«
»Wie bitte?«
»Geht in Demagyars Kerker«, wiederholte Andrej. »Seht Euch die Menschen an, die dort gefangengehalten werden. Redet mit ihnen. Fragt sie, wer sie sind und woher sie kommen.«
»Das ... Verlies?« Maria schien wirklich nicht zu wissen, wovon er sprach. Konnte es sein, daß sie überhaupt keine Vorstellung hatte, was ihr Bruder und seine drei Leibwächter getan hatten? Oder hatte sie es vielleicht bislang einfach nicht wissen wollen?
»Geht dort hinunter - falls Demagyar es Euch erlaubt«, bat Andrej noch einmal. »Und falls ich dann noch am Leben bin, kommt zurück, und wir reden weiter. Und ... redet bitte nicht mit Kerber und Malthus darüber.«
Maria blickte ihn aus tränenverschleierten Augen an. Sie kämpfte jetzt nicht mehr gegen das Weinen an, unterdrückte aber jeden Laut. Andrej konnte nicht mit letzter Bestimmtheit sagen, warum die Tränen über ihr Gesicht liefen. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich schließlich um und klopfte leise gegen die Tür, die so schnell geöffnet wurde, als hätte der Mann draußen mit der Hand am Riegel gewartet, und Maria verließ die Zelle.
Andrej blieb in einem Zustand tiefster Verwirrung zurück. Es war wie bei den anderen Zusammentreffen mit ihr gewesen: Marias bloße Gegenwart machte es ihm nahezu unmöglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Selbst die wenigen Worte, die er gesprochen hatte, hatten ihn unglaublich viel Kraft gekostet.