Er hatte deswegen nicht danach gefragt, weil er es die ganze Zeit über insgeheim gewußt hatte. Irgend etwas in ihm hatte von einem Erbe gewußt, das ihn zum Außenseiter machte - nicht einmal so sehr in Borsã, wo einige Menschen mehr oder minder mit dem Fluch dieses Erbes gestraft waren und damit in relativer Ruhe zu leben verstanden, nicht einmal in Transsilvanien, wo dieses Phänomen womöglich häufiger auftrat als im Rest der Welt -, sondern im Angesicht ganz normaler Menschen wie Maria.
»Ihr schweigt, als hättet Ihr endlich begriffen«, sagte Malthus. »Ich kann nur hoffen, daß es so ist. Es wäre mir furchtbar, wenn Ihr ohne das nötige Wissen in den Tod gehen würdet.«
»Ich habe überhaupt nichts begriffen«, antwortete Delãny gehässig. »Außer, daß Ihr der Mörder meines Sohnes seid.«
Malthus schwieg eine ganze Weile. »Es täte mir leid, wenn das alles ist, was Ihr verstanden habt«, sagte er schließlich. »Zumal es nicht die Wahrheit ist. Jedenfalls nicht in diesem Sinne.« Er beugte sich ein ganz kleines Stück vor. »Jeder von uns stirbt nach einer mehr oder minder normalen Lebensspanne - wenn er nicht zuvor zerstückelt, zerquetscht wird oder lichterloh verbrennt. Warum glaubt Ihr wohl, verbrennt man schon seit Anbeginn der Zeiten Menschen, die im Verdacht stehen, mit dem Bösen im Bunde stehen? Warum steinigt man Ketzer, bis ihr Körper zur Unkenntlichkeit zertrümmert ist? Warum vierteilt man Außenseiter, denen man ruchlose Verbrechen angehängt hat?«
»Ihr wollt damit sagen ...«, stammelte Andrej.
»Ich will damit sagen, daß uns die normalen Menschen durchaus häufig genug erkennen und erbarmungslos ausrotten, wenn sie unserer habhaft werden«, sagte Malthus bitter. »Sie kennen keine Gnade mit uns. Und sie würden uns noch viel bestialischer jagen, wenn sie unser Geheimnis kennen würden.«
»Welches Geheimnis?«
Der Ritter zögerte, und Andrej spürte den Zweifel, der Malthus daran hinderte, einfach draufloszureden. »Was soll es«, sagte er dann doch. »Ihr habt ein Recht zu wissen, zu welcher Art Ihr gehört.«
»Zu welcher Art gehöre ich denn?« fragte Delãny mit klopfendem Herzen.
»Ein Teil des Geheimnisses ist, daß man uns viel leichter töten kann, als selbst die wenigen Eingeweihten glauben: Ein gezielter Stich ins Herz genügt.«
So, wie er es sagte, war das bei weitem nur der kleinere Teil der Wahrheit. »Was gehört noch zu unserem Geheimnis?« fragte Delãny heiser.
Malthus lächelte traurig. »Wir leben zwar länger als andere - aber nicht ewig. Es sei denn ...«
»Es sei denn was?«
»Es sei denn, wir nähren uns vom Blut unserer eigenen Art. Es sei denn, wir töten einen der unseren - und laben uns an seinem Saft.«
Andrej starrte ihn fassungslos an. Sein Herz raste, und seine Hände zitterten, als hätte er soeben eine große Anstrengung vollbracht.
»Damit wir uns recht verstehen, Delãny«, sagte Malthus ruhig. »Es geht in unserem Kampf darum, wer am Ende die Kraft des anderen aufnehmen kann. Um einen weiteren Schritt in die Unendlichkeit zu tun.«
Andrej gab keine Antwort mehr. Jedes weitere Wort war sinnlos. Malthus war in der Tat anders als Kerber und Biehler. Zweifellos war er der Gefährlichste der drei - aber möglicherweise hatte er auch ein tragischeres Schicksal durchlitten als seine beiden Kumpane. Und er glaubte an das, was er Andrej gerade versucht hatte zu verdeutlichen. Irgendwann, vor sehr langer Zeit, mußte Malthus an der Erkenntnis dessen, was er für seine Bestimmung hielt, innerlich zerbrochen sein.
Auch der Ritter schien das Interesse an einem weiteren Wortgefecht verloren zu haben; er trat zwei oder drei Schritte zurück und ließ sein Schwert mehrmals spielerisch durch die Luft pfeifen. Andrej erschrak, als er sah, mit welcher Leichtigkeit Malthus die schwere Waffe handhabte. Sein Gegner war viel stärker als er, und wie gut er mit dem Schwert umzugehen verstand, hatte Andrej ja schon einmal am eigenen Leib erfahren. Zwar hatte er ihn damals fast besiegt, aber das war kaum mehr als Glück gewesen; wahrscheinlich hatte er seinen Sieg nur dem Umstand zu verdanken gehabt, daß Malthus ihn unterschätzt hatte. Ein zweites Mal würde ihm dieser Fehler gewiß nicht unterlaufen.
Andrej dehnte seine Lockerungsübungen nach und nach auf sämtliche Körperteile aus. Schließlich zückte er sein Schwert und führte zwei, drei erste Übungsschläge aus. Seine Muskeln waren noch nicht ganz so geschmeidig, wie er das gewohnt war - und vor allem, wie das gegen diesen Gegner notwendig war; trotzdem bewegte er sich absichtlich nicht so schnell, wie er das selbst in seinem jetzigen Zustand gekonnt hätte. Malthus beobachtete ihn aufmerksam. Andrej würde jeden noch so geringen Vorteil dringend brauchen, um gegen diesen Mann zu bestehen - allerdings glaubte er nicht wirklich, daß er den Mann besiegen konnte, dem auf dem Weg zur Unsterblichkeit jedes Opfer recht zu sein schien.
Denke nie über deine Chancen nach! flüsterte Michail Nadasdys Stimme ihm zu. Ergreife sie! Und wenn du keine hast, dann schaffe dir welche! Die meisten Kämpfe werden im Kopf entschieden!
... Und wenn du unterliegst, wirst du den Kopf selbst verlieren, fügte Andrej in Gedanken hinzu. Er lächelte, senkte das Schwert und stand fast eine Minute lang reglos und mit geschlossenen Augen da.
Als er die Lider wieder hob, waren alle Zweifel und alle Furcht verschwunden. Er war vollkommen ruhig und fühlte sich zugleich von einer großen Kraft erfüllt. Mit äußerster Konzentration absolvierte er drei verschiedene Angriffstechniken, dann senkte er das Schwert, wandte sich langsam zu seinem Gegner um und nickte ihm zu.
»Ich bin bereit«, sagte er.
»Eine bemerkenswerte Technik«, sagte Malthus. »Ich habe sie bisher nur einmal gesehen.«
»Und wo?«
»Bei einem Mann, der aus einem sehr fernen Land kam. Er war ein mächtiger Krieger. Ich habe ihn getötet«, antwortete Malthus. Und in derselben Sekunde griff er an.
Für einen Mann seiner Größe bewegte er sich unglaublich schnell. Ja, er schien heute noch schneller und noch beweglicher zu kämpfen, als während ihrer ersten Auseinandersetzung im Wald. Und anders als damals versuchte er nicht, Andrej mit seiner ausgefeilten Technik oder geschickten Finten zu überrumpeln, sondern er setzte ausschließlich auf seine Kraft und seinen massigen Körper - gepaart mit seiner unerwarteten Schnelligkeit eine geradezu mörderische Mischung.
Andrej blieb gar keine andere Wahl, als sich mit einem hastigen Satz in Sicherheit zu bringen und mehr schlecht als recht den wuchtigen Schwerthieb zu parieren, mit dem Malthus diese erste Attacke begleitete.
Schon der erste Treffer schlug ihm um ein Haar die Waffe aus der Hand, und er taumelte zurück. Den nächsten Angriff des Goldenen erahnte er mehr, als daß er ihn sah; diesen Schwerthieb konnte er erst im buchstäblich allerletzten Moment abwehren - allerdings um den Preis, daß er endgültig aus dem Gleichgewicht geriet und sich nur durch einen instinktiven Ausfallschritt vor dem Sturz schützen konnte.
Auf diese Blöße hatte Malthus nur gewartet. Er wirbelte mitten in der Bewegung herum, ohne dabei auch nur einen Deut langsamer zu werden. Sein Schwert prallte dicht über dem Handschutz gegen Andrejs Sarazenenschwert und riß dessen Arm in die Höhe; im selben Atemzug schmetterte er ihm die geballte Faust ins Gesicht. Andrej taumelte zurück, spie Blut und war für Bruchteile von Sekunden so gut wie blind. Dennoch gelang es ihm, Malthus' nächsten Hieb mit letzter Anstrengung noch abzublocken - aber der Fußtritt, den dieser Riese ihm nun versetzte, fegte ihm die Beine weg. Andrej schlug schwer auf dem Boden auf und rollte sich blitzschnell zur Seite; dann spürte er einen brennenden Schmerz, denn Malthus hatte ihm nachgesetzt und ihm mit einem weiteren Hieb eine tiefe Fleischwunde quer über der Brust zugefügt.