Als sich ihre Gesichter auf gleicher Höhe befanden, riß Frederic die Hand zurück und vollzog vor dem Kopf des Herzogs eine blitzschnelle, wischende Bewegung. Demagyar ließ das Schwert fallen, griff sich mit beiden Händen an die Kehle und kippte röchelnd nach hinten. Zwischen seinen Fingern quoll hellrotes Blut hervor.
»Seht Ihr, Herr«, sagte Frederic mit beängstigend ruhiger Stimme, »so macht man das.«
Graf Bathory trat mit zwei schnellen Schritten neben den sterbenden Herzog und sah einen Moment lang kalt auf ihn herab; dann näherte er sich Andrej. Ohne ein Wort zu sagen, schob er sein Schwert in die Scheide, griff mit beiden Händen nach dem Armbrustbolzen und zog ihn mit einem harten Ruck heraus.
Andrej stöhnte vor Schmerz laut auf, hielt mühsam sein Gleichgewicht und preßte die Hand auf die Wunde, die sofort wieder heftig zu bluten begann. Das Mitleid auf Graf Bathorys Gesicht hielt sich jedoch in Grenzen.
Frederic kam langsam auf ihn zu. Auf seinem Gesicht lag ein angedeutetes, fast schüchternes Lächeln. Wäre da nicht etwas in seinen Augen gewesen, was Andrej erschauern ließ, man hätte ihn in der Tat für ein ganz gewöhnliches, vielleicht etwas zu schmächtig geratenes Kind halten können.
»Das war es, was ich dir die ganze Zeit sagen wollte«, sagte Frederic. »Aber es fiel mir unglaublich schwer. Und außerdem hast du mir ja nie richtig zuhören wollen.«
Vielleicht stimmt das sogar, dachte Andrej. Tief in seinem Inneren hatte er es vermutlich schon die ganze Zeit über gespürt; und endlich gestand er sich ein, daß er es hätte merken müssen, spätestens nach dem Brand im Gasthaus. Er hatte es einzig deshalb nicht bemerkt, weil er es nicht bemerken wollte.
»Bist du jetzt stolz auf dich?« fragte er bitter. »Ist es dir wenigstens leichtgefallen, deinen zweiten Menschen zu töten? Ich meine, allmählich müßtest du doch Übung darin haben.«
»Du hast eine seltsame Art, danke zu sagen«, maulte Frederic. »Wenn wir nicht...«
»Wenn er Demagyar nicht getötet hätte, hätte ich es getan«, mischte sich Graf Bathory ein.
»Ihr hättet Euren Herzog ...?« Andrej blickte den Edelmann ungläubig an und verharrte in einer etwas merkwürdigen Haltung. Die Wunde in seiner Schulter hatte aufgehört zu bluten, der Schmerz war erloschen - trotzdem preßte er weiter die Hand dagegen und versuchte, den Anschein zu erwecken, als könne er sich nur mit Mühe auf den Beinen halten.
Graf Bathorys Blick machte allerdings deutlich, was er von Andrejs schauspielerischem Talent hielt.
»Er war ein schlechter Herrscher«, erklärte der Edelmann. »Und nicht sehr beliebt bei seinen Untertanen. Früher oder später hätte ihn ohnehin irgend jemand umgebracht. Ihr habt sein ... Schloß gesehen. Glaubt Ihr, er hat es grundlos in eine Festung verwandelt?« Er schüttelte abfällig den Kopf. »Ják Demagyar war ein grausamer Despot. Und ein Dummkopf dazu. Ich habe die Geschichte von dem angeblichen Diebstahl keinen Augenblick lang geglaubt ... so wenig übrigens wie diesen schlecht gespielten Überfall in der Nacht.«
»Ich wundere mich, daß Ihr noch lebt«, sagte Andrej.
»Gott bewahre!« Graf Bathory lachte leise. »Ich mußte überleben. Demagyar brauchte einen glaubwürdigen Zeugen für den gemeinen Anschlag auf sein Leben. Das hätte ihm einen Vorwand gegeben, die Steuern und Abgaben noch weiter zu erhöhen - und sich vor allem einiger Kritiker zu entledigen, die ihm schon lange lästig waren. Wie gesagt: Ják Demagyar war ein Ungeheuer. Macht Euch keine Sorgen, niemand wird ihm eine Träne nachweinen - und niemand wird viele Fragen stellen, wie es zu seinem Tod kommen konnte.«
Andrej sah nachdenklich auf den Dolch, der in Frederics Gürtel steckte. Er wollte etwas sagen, aber Graf Bathory schüttelte den Kopf und sagte noch einmal und mit leicht erhobener Stimme: »Niemand wird viele Fragen stellen, Delãny ... es sei denn, Ihr zwingt sie dazu.«
Andrej verstand. Er hatte in den letzten Tagen viele Dinge gesehen, die er nicht hatte sehen wollen, und vermutlich war es wirklich besser, wenn er gar nicht herauszufinden versuchte, was das alles zu bedeuten hatte.
»Es wäre ratsam, wenn der Junge und Ihr die Stadt verlaßt«, fuhr Graf Bathory fort. »Wenigstens für eine Weile.« Plötzlich lachte er. »Schließlich müßte ich Euch doch noch hinrichten lassen. Stellt Euch nur das Gesicht des Scharfrichters vor, wenn er am Ende völlig verzweifelt aufgeben müßte. Und außerdem ... Ehrlich gesagt, ich möchte gar nicht wissen, was mit euch beiden wirklich los ist. Ich verstehe es nicht, aber ich bezweifle zugleich, daß ihr oder irgend jemand sonst es mir erklären könntet.«
Andrej blieb ernst. »Ihr laßt uns gehen?«
»Es wäre viel zu kompliziert, irgend etwas anderes zu tun«, antwortete Graf Bathory mit deutlicher Nervosität in seiner Stimme, während sein Blick nochmals Andrejs Schulter streifte, sich dann jedoch erschrocken von der schon fast vollständig verheilten Wunde abwandte.
»Und ...«, Andrej deutete auf Frederic, »... seine Familie?«
»Das Schiff ist ausgelaufen.« Graf Bathory antwortete im Tonfall ehrlicher Überraschung. »Ebenso wie das andere.«
»Welches andere?«
»Die ›Möwe‹«, erwiderte Graf Bathory. »Vater Domenicus' Schiff. Es legt in diesem Moment ab.«
Andrej wollte herumfahren, aber Graf Bathory legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Unterarm und schüttelte den Kopf.
»Es hat keinen Sinn, Delãny«, sagte er. »Ihr werdet niemanden finden, der Euch hilft, das Schiff eines Inquisitors aufzuhalten.«
Andrej riß sich los. »Und der Pirat?«
»Ist längst auf dem Meer«, sagte Graf Bathory. »Aber ich denke, ich kann Euch sagen, wohin sie wollen.« Er seufzte tief. »Aber Ihr müßt Euch entscheiden, welchem der beiden Schiffe Ihr folgen wollt, Delãny. Sie laufen verschiedene Häfen an ... Es sei denn, Ihr wäret in der Lage, gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten zu sein.«
Der Blick, mit dem er diese Worte begleitete, ließ keinen Zweifel daran, daß er selbst dies mittlerweile nicht mehr für ausgeschlossen hielt - und daß er abermals auf eine Antwort lieber verzichtete.
Andrej s Blick wanderte zu Frederic, zu Graf Bathory und schließlich wieder zu dem Jungen. Dann sagte er: »Abu Dun.«
Und danach die beiden goldenen Ritter, fügte er in Gedanken hinzu. Sie mögen nahezu unbesiegbar sein, aber sie wissen nicht, was es heißt, den Zorn eines Delãny herauszufordern.
ENDE DES ERSTEN BUCHES