»Nein«, antwortete er. »Ich bin kein Edelmann.«
»Dann seid Ihr reich?«
»Mein Schwert und dieses Roß sind alles, was ich besitze«, antwortete Andrej. »Möchtest du es reiten?«
Frederics Augen weiteten sich. »Dieses Pferd?«
»Warum denn nicht dieses Pferd?« Andrej hob Frederic in den Sattel, ohne seine Antwort auch nur abzuwarten. Der Junge strahlte.
Delãny griff den Hengst am Zügel. Während er das wertvolle Tier langsam den Weg in Richtung Borsã zurückführte, schweiften seine Gedanken ab. So hatte er sich all die Jahre über das Wiedersehen mit seinem Sohn Marius vorgestellt: Ihn auf sein Pferd zu setzen und gemeinsam mit ihm loszuziehen, um die nähere und weitere Entfernung zu erkunden, und ihm die Plätze zeigen, die ihm im letzten Drittel seiner Kindheit ans Herz gewachsen waren.
Ein paar Schritte weiter richtete er sich fragend an Frederic: »Und jetzt erzähle, was hier geschehen ist. Wer hat das getan? Die Türken? Eine Räuberbande? Oder ein Fürst, der Machtpolitik mit dem Abschlachten von Menschen verwechselt?«
»Nein, Herr«, antwortete Frederic. Seine Stimme war plötzlich ganz leise. Sie zitterte.
»Vergiß den Herrn«, sagte Andrej. »Mein Name ist Andrej.« Er nickte Frederic so freundlich zu, wie er das in diesem Moment fertigbrachte. »Immerhin sind wir Verwandte - wenn auch nur weit entfernte.«
Vielleicht nicht einmal so weit entfernt, wie der Junge annehmen mochte. Es war gut möglich, daß er der Nachzügler aus der Familie eines seiner Onkel war - oder der Erstgeborene eines Cousins. Und doch verkniff sich Andrej die Frage, wie Frederics Vater geheißen hatte. Irgendwie war in Borsã ohnehin jeder mit jedem verwandt. Und wie es aussah, war dieser Junge sowieso der einzige aus der Familie, der noch am Leben geblieben war.
»Andrej, gut«, sagte Frederic wenig überzeugt. Sein Blick wanderte nach Süden, suchte die dunstigen Berggipfel am Horizont ab. Ein eigenartiger Ausdruck erschien in seinen Augen, an denen Andrej erst jetzt auffiel, daß ihre Farbe auf verblüffende Weise den klaren Fluten des Brasan ähnelte. Andrej fühlte sich schuldig, weil er diesem Jungen zumutete, all das Grauenhafte noch einmal zu durchleben.
»Sie kamen vor zwei Tagen«, sagte er. »Abends, mit dem letzten Licht des Tages. Es waren viele ... bestimmt so viele Männer, wie Ziegen in unserer Herde sind.«
»Und wie viele Ziegen umfaßt eure Herde?« fragte Andrej, erntete aber nur ein verständnisloses Achselzucken als Antwort. Frederic konnte nicht zählen - nur wenige hier konnten das.
Es spielte auch keine Rolle. Es mußten schon viele gewesen sein, wenn es ihnen gelungen war, dieses Massaker anzurichten - auch wenn sich die Männer des Dorfes aus irgendeinem Grund kaum gewehrt hatten.
»Soldaten?« fragte er.
»Ja«, antwortete Frederic. »Männer mit Waffen. Kostbare Waffen, solche, wie Ihr ... wie du eine trägst. Ein paar hatten Rüstungen. Aber es waren auch Mönche dabei. Und ein Papst.«
»Ein WAS?«
»Ein ... Kardinal?« schlug Frederic schüchtern vor.
Andrej lächelte und bedeutete ihm, weiter zu sprechen. Er wollte den Jungen nicht noch mehr in Verlegenheit bringen, als er es sowieso schon getan hatte. Klar war, daß ein höherer kirchlicher Würdenträger nach Borsã gekommen war - und warum auch nicht? Die Dorfbewohner hatten stets ein gutes Verhältnis zur Kirche gepflegt. Zu Andrejs Zeiten war Borsã eines der wenigen Dörfer in der Umgebung, das einen eigenen Mönch hatte.
Der damals den ersten Stein nach ihm geworfen hatte.
»Am Anfang waren sie freundlich«, fuhr Frederic fort. »Sie baten um Unterkunft für eine Nacht und ein Gespräch mit dem Dorfältesten, und natürlich haben sie beides bekommen. Bis spät in die Nacht konnte man das Lachen und Singen vom Turm herab hören. Aber im Dorf gingen Gerüchte um, von Kriegern und Mönchen, die durch das Land zögen und auf der Suche nach einem Zauberer seien.«
»Einem Zauberer?« Delãny blieb stehen und sah Frederic zweifelnd an, aber der Junge schüttelte nur um so heftiger den Kopf.
»Ich sage die Wahrheit. Ein mächtiger Hexenmeister, der mit dem Satan persönlich im Bunde sei, heißt es.«
»Glaubst du an Zauberei?« Andrej ging weiter und lachte laut, vielleicht ein bißchen zu laut und zu heftig, um den bohrenden Schmerz über seinen frischen Verlust übertönen zu können - den er in seiner ganzen grausamen Bedeutung wahrscheinlich sowieso erst in ein paar Tagen begreifen würde. Zudem begann ein ungutes Gefühl schleichend Besitz von ihm zu ergreifen. Er hätte sich fast gewünscht, daß Frederic nicht weiter sprechen würde.
»Sie taten es jedenfalls«, antwortete Frederic düster. »Noch in der Nacht sandte Barak einen Boten ins Dorf, der jeden Mann, jede Frau und jedes Kind für den nächsten Morgen in die Burg bestellte. Dort haben sie dann alle umgebracht.«
Andrej schauderte es. Er war froh, daß Frederic es so kurz gemacht hatte. Natürlich würde er ihn über alle Einzelheiten befragen müssen, aber nicht jetzt. Er hatte schon viel zu viel gehört.
»Alle?« fragte er erschüttert.
»Alle, die du gesehen hast«, antwortete Frederic. »Die anderen haben sie in Ketten gelegt und mitgenommen, ebenso alles Vieh und alle Schätze, die sie finden konnten.«
»Raubritter also«, knurrte Andrej. Zorn erfüllte ihn. Über ganz Transsilvanien hing die Türkengefahr wie ein Damoklesschwert, und es hätte ihn nicht verwundert, wenn Borsã Opfer eines der kleineren Scharmützel geworden wäre, die größere Abwehrschlachten gegen die expansionslüsternen Türken zu begleiten pflegten. Aber Raubritter? Das Dorf selbst war nie besonders friedlich gewesen und in seiner mittlerweile schon recht langen Geschichte mehr als einmal in eine Fehde mit einem Nachbarort verwickelt gewesen, wobei es durchaus des öfteren selbst einen Zwist vom Zaun gebrochen hatte. Auch wenn sie es niemals laut zugeben würden: Sie hatten stets in dem Bewußtsein gelebt, eines Tages an den Falschen geraten zu können, der ihnen eine bittere Niederlage zufügen konnte, möglicherweise sogar eine vernichtende. Damit hätte Andrej sich abfinden können. Es wäre bitter gewesen, und sicher hätte er im ersten Moment auch blutige Rache geschworen, aber er hätte damit leben können.
Doch sein einziger Sohn, seine gesamte Familie, das Borsã-Tal, ausgelöscht von gemeinen Räubern? Das war unvorstellbar!
Frederic schüttelte den Kopf. »Nein, es waren keine Räuber. Ich sagte doch, es waren Kirchenmänner. Bruder Toros hat einen von ihnen gekannt. Sonst hätte Barak ihnen doch nie vertraut!«
Andrej dachte an den selbstgefälligen und bösartigen Mönch, dem er vor Jahren oft die Pest den Hals gewünscht hatte, und der nun mit ausgestochenen Augen und unter schwerster Folter für all seine Sünden hatte büßen müssen - was für ein grausamer Scherz des Schicksals. »Bruder Toros hat immer noch bei euch gelebt? Oder ist er etwa erst mit den anderen zurückkommen?«
»Er war unser Gottesmann«, belehrte ihn Frederic. In seiner Stimme schwang hörbarer Stolz, der nur zu verständlich war, da bei weitem nicht jedes Dorf einen eigenen Gottesmann vorzuweisen hatte.
»Wie konntest du entkommen?« fragte er.
Frederic senkte beschämt den Blick, und es dauerte eine ganze Weile, bis er antwortete. Vielleicht so lange, wie er gebraucht hatte, um sich eine glaubhafte Geschichte auszudenken.
»Ich war der jüngste Sohn meines Vaters«, sagte er, »und für die Ziegen verantwortlich. Ich treibe sie morgens aufs Feld und am Abend wieder zurück, weißt du? An dem Abend, an dem die Fremden kamen, war ich unaufmerksam.«
»Du hast ein paar Tiere verloren«, vermutete Andrej. Das Gefühl kannte er. Er erinnerte sich noch jetzt an die fürchterliche Tracht Prügel, die ihm sein Vater verabreicht hatte, als er einmal mit drei Tieren weniger zurückkam, als er am Morgen mitgenommen hatte.