»Du mußt jetzt nicht fortfahren«, sagte Andrej leise. »Wir können später weiterreden. Oder auch gar nicht, wenn du möchtest.«
Frederic schüttelte den Kopf und schluckte die Tränen hinunter. »Nachdem sie gegangen waren und ich festgestellt habe, daß von den Gefolterten niemand mehr am Leben waren, bin ich ihnen gefolgt. Ich wollte wissen, wohin sie meine Mutter bringen und ... und die anderen. Sie haben sie aneinander gebunden wie Tiere und dann aus dem Borsã-Tal getrieben.«
»Wohin?«
Frederic deutete nach Süden, auf die einzige Straße, die nach Borsã hinein und vom Dorf weg führte. »Ich bin ihnen ein Stück gefolgt. Nicht weit. Ich hatte Angst und wußte einfach nicht, was ich tun sollte. Ich wollte meine Mutter nicht im Stich lassen, wirklich, aber ...«
»Es ist gut«, sagte Delãny. »Es war sehr klug von dir, ihnen nicht weiter zu folgen. Du hättest nichts für deine Familie tun können, und wahrscheinlich hätten sie dich am Ende auch noch gefangengenommen oder getötet.«
»Zum Schluß bin ich zurückgegangen«, fuhr Frederic im Flüsterton fort. »Ich wollte Barak und meinen Vater begraben, wenn meine Kraft schon nicht ausreichte, um sie alle zu bestatten. Aber Barak war noch am Leben, und so ... habe ich gewartet.«
»Wie lange?«
»Einen Tag und eine Nacht und dann noch einmal fast einen ganzen Tag«, antwortete Frederic. »Ich habe gebetet, daß Gott Barak endlich von seinen Leiden erlösen möge, aber er hat es nicht getan. Das ... das hast erst du getan.«
Andrej räusperte sich. War das Gespräch vorhin schon unangenehm gewesen, so wurde es jetzt geradezu quälend.
»Zwei Tage Vorsprung also.« Er blickte nach Süden. Es würde noch eine Stunde lang hell bleiben, vielleicht auch etwas länger, aber das Licht war bereits blasser geworden. Von den Bergen herab floß Nebel ins Tal, als hätte sich eine Wolke an den scharfen Graten aufgeschlitzt und ergösse ihren Inhalt nun auf die Erde. »Das ist nicht viel. Sie können mit all diesen Gefangenen nicht sehr schnell sein.«
»Du willst ihnen folgen?« Frederics Gesicht verhärtete sich. »Wirst du sie töten?«
Andrej schüttelte den Kopf und nickte zugleich. »Zuerst beerdigen wir Marius, Barak und deine Familie«, sagte er. »Danach folgen wir ihnen.« Und dann, fügte er in Gedanken hinzu, werden wir sehen, was diese drei goldenen Ritter tun, wenn sie uns gegenüberstehen...
2
Andrej hatte sein Versprechen gehalten und Marius, Barak und Frederics Vater sowie seinem Bruder ein christliches Begräbnis zuteil werden lassen. Ihre Kräfte hatten nicht ausgereicht, Gräber für mehr als zwanzig Tote auszuheben, so daß sie die Leichname der anderen Erschlagenen in den Hof hinausgetragen und verbrannt hatten. Das war sicher nicht das, was Bruder Toros ein christliches Begräbnis genannt hätte, aber das einzige, was sie noch für die Ermordeten tun konnten.
Während Andrej dastand - so nahe am Feuer, daß die Hitze auf seinem Gesicht schmerzte und sich seine Augenbrauen und Wimpern kräuselten - und eines der wenigen Gebete sprach, das er kannte, kamen ihm zum ersten Mal Zweifel daran, ob es so etwas wie einen allmächtigen Gott überhaupt gab.
Daß er allgegenwärtig und gütig war, daran glaubte er ohnehin schon lange nicht mehr. Das Leben hatte ihm zuviel genommen, und er hatte zuviel Leid und Willkür gesehen, um an einen gütigen - oder auch nur gleichgültigen - Gott glauben zu können. Nun aber begann er sich zu fragen, ob es so etwas wie eine allmächtige Wesenheit im Universum überhaupt gab, irgendwo in den Ödnissen zwischen den Sternen am Himmel, von denen Michail Nadasdy behauptet hatte, jeder einzelne sei eine Welt, so groß wie die ihre und möglicherweise von Menschen gleich ihnen bewohnt. Andrej glaubte das nicht. Und wenn er es geglaubt hätte, so hätte er es sich nicht vorstellen können. Seine Welt war viel kleiner als die, von der Michail Nadasdy erzählt hatte; selbst kleiner als die, in der Michail Nadasdy gelebt hatte. In Andrejs Welt war kein Platz für einen Gott, der grausam genug war zuzulassen, daß einem Kind wie Marius so etwas widerfuhr.
Trotzdem blieb er wie in stummem Gebet weiter reglos stehen, bis auch der Junge sein Gebet beendet hatte und die Hände herunternahm. Als Frederic mit einem gemurmelten Amen schloß, da bewegte er lautlos die Lippen, als spräche er dasselbe Wort, aber er wich seinem Blick aus, als sie sich herumdrehten und schweigend nebeneinander den Hof verließen. Es spielte in diesem Moment keine Rolle, was er glaubte. Nachdem er für seinen Sohn nichts mehr tun konnte, brauchte schließlich dieser Junge jedes bißchen Hilfe, das er bekommen konnte.
Die Plünderer hatten nicht alle Lebensmittelvorräte mitgenommen, so daß sie sich, bevor sie am nächsten Morgen aufbrachen, noch ein reichhaltiges Mahl gönnen und die Satteltaschen ihres Pferdes auffüllen konnten. Andrej hatte trotz intensiver Suche nichts mehr von Wert gefunden, was sie mitnehmen konnten. Er bedauerte das. Er wollte gewiß nicht selbst zum Plünderer werden, aber sie hatten möglicherweise einen langen Weg vor sich und mochten auf etwas angewiesen sein, das sie verkaufen oder eintauschen konnten. Die Eindringlinge waren jedoch gründlich gewesen. Andrej nahm an, daß sie einige Übung darin hatten, alles Wertvolle an einem Ort aufzuspüren.
Die beiden Delãnys brachen mit dem ersten Tageslicht auf und folgten den Spuren der Angreifer nach Süden, was nicht besonders schwer war. Alles in allem mußten es an die achtzig Menschen gewesen sein, die vor zwei Tagen aus dem Borsã-Tal aufgebrochen waren. Die Spuren würden noch nach einer Woche deutlich zu sehen sein. Sie mußten sich also nicht übermäßig beeilen.
Zu zweit auf einem Pferd kamen sie ohnehin nicht schnell voran. Frederic stieg nach einer Weile wieder ab und schlug vor, immer abwechselnd zu reiten, doch das erwies sich als unpraktisch, so daß Andrej es vorzog, ihn wieder in den Sattel zu heben und es dem Pferd zu überlassen, ein praktikables Tempo zu finden.
Sie sprachen sehr wenig an diesem Tag. Frederic starrte die meiste Zeit mit leerem Blick vor sich hin und schlief ein paarmal im Sattel ein. Einmal wäre er dabei fast vom Pferd gestürzt, aber Andrej weckte ihn trotzdem nicht. Der Junge brauchte vor allem Zeit, um das Erlebte zu verarbeiten, und Schlaf half, die Zeit zu verkürzen.
Er wünschte, er wäre auch so glücklich dran gewesen. Nachdem Raqi und seine Tochter gestorben waren, hatte er geglaubt, nichts könnte ihn mehr erschüttern. Das war ein Irrtum gewesen. Es gab immer eine Steigerung des Grauens, und er hatte gestern eine erlebt: Der Tod seines Sohnes hatte die Wand seiner betäubenden Trauer eingerissen und ein so tiefes Entsetzen in ihm ausgelöst, daß er sich am liebsten gleich in sein Schwert gestürzt hätte.
Aber bevor er solch selbstzerstörerische Gedanken weiter verfolgte, hatte er noch eine Kleinigkeit zu erledigen.
Sie rasteten auf einer Waldlichtung, aßen von den mitgebrachten Vorräten und tranken Wasser aus einem Bach. Und sie mieden vor allem die Nähe menschlicher Ansiedlungen. Solange er nicht wußte, was in Borsã wirklich geschehen war, konnte er keinem Menschen trauen.
In der zweiten Nacht schlief Frederic besser. Er wurde noch immer von Alpträumen geplagt und schrak mehr als einmal schreiend hoch, aber dazwischen gab es auch Phasen, in denen er vollkommen ruhig dalag und schlief. Einmal - wenn auch nur für einen flüchtigen Moment - glaubte Andrej sogar die Andeutung eines Lächelns auf seinem Gesicht zu erkennen.
Während er den schlafenden Jungen betrachtete, überkam ihn ein Gefühl von sonderbarer Vertrautheit, ja, fast Zärtlichkeit. Das Schicksal hatte ihm einen Sohn genommen, einen Jungen, den er kaum gekannt aber nichtsdestoweniger geliebt hatte. Doch im gleichen Moment hatte ihm das Schicksal einen Sohn geschenkt - keinen leiblichen zwar, aber vielleicht einen, mit dem er so vertraut werden konnte, wie Michail nach einigen Jahren mit ihm vertraut gewesen war. Wenn das Leben einen Sinn hatte, hatte Raqi einmal gesagt, so den, es weiterzugeben. Wozu für eine bessere Welt kämpfen, wenn es niemanden gab, der darin leben konnte? Nun, jetzt hatte er jemanden.