»Ein Prüfnetz.«
Richard runzelte die Stirn. »Ein Prüfnetz? Was soll denn geprüft werden?«
»Die Feuerkette«, erklärte ihm Zedd mit ernster Stimme. »Wir versuchen die genaue Funktionsweise einer Feuerkettenreaktion herauszufinden, um feststellen zu können, ob vielleicht die Möglichkeit besteht, sie rückgängig zu machen.«
Richard kratzte sich an der Schläfe. »Aha.«
Das Ganze gefiel ihm immer weniger. Er hatte das unbedingte Verlangen, Kahlan wieder zu finden, und gleichzeitig war er zutiefst besorgt, was Nicci bei diesem Versuch, die mysteriösen, von Zauberern aus früheren Zeiten erschaffenen Kräfte zu enträtseln, widerfahren konnte. Zedd, als Oberster Zauberer, verfügte über Fähigkeiten und Talente, die Richard nicht einmal im Ansatz zu begreifen vermochte, und doch waren ihm diese Zauberer aus alter Zeit hinsichtlich seiner Gabe weit überlegen. Trotz des ungeheuren Wissens, das Zedd, Nathan, Ann und Nicci besaßen, trotz ihrer ungeheuren Macht, taten sie im Grunde nichts anderes, als mit Dingen herumzuhantieren, die weit außerhalb ihrer Erfahrung und ihrer Fähigkeiten lagen, Dingen, die selbst die Zauberer aus alter Zeit gefürchtet hatten. Aber hatte denn jeder von ihnen überhaupt eine andere Wahl?
Zudem war Richard nicht nur besorgt um Nicci, er brauchte sie auch, damit sie ihm bei der Suche nach Kahlan half. Die anderen mochten auf einigen Gebieten mächtiger sein als sie, alles zusammengenommen aber bewegte sie sich auf einem ganz anderen Niveau. Wahrscheinlich war sie die mächtigste Hexenmeisterin, die je gelebt hatte. Was andere nur unter größten Mühen vollbringen konnten, schaffte Nicci mit einem flüchtigen Blick. So bemerkenswert das war, in Richards Augen war es vermutlich noch einer ihrer am wenigsten bemerkenswerten Züge. Er kannte außer Kahlan niemanden, der sich mit ähnlicher Hartnäckigkeit auf ein Ziel konzentrieren konnte. Wenn es darum ging, ihn zu beschützen, mochte Cara ebenso unbeirrbar sein, Nicci dagegen schaffte es, diese Hartnäckigkeit auf alles anzuwenden, was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte. Damals, als sie noch gegen ihn gekämpft hatte, hatte ihre eiserne Entschlossenheit sie nicht nur ungeheuer effektiv, sondern auch überaus gefährlich gemacht.
Er war froh, dass sich das alles geändert hatte. Seit Beginn der Suche nach Kahlan war Nicci zu seiner engsten und treuesten Freundin geworden, und das, obwohl sie wusste, dass sein Herz Kahlan gehörte und sich das niemals ändern würde.
Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Und wieso schwebt sie dann dort oben, mitten in diesem ... Ding?«
»Weil sie als Einzige von uns weiß, wie man subtraktive Magie anwendet«, brachte es Ann schlicht auf den Punkt. »Für das Auslösen einer Feuerkettenreaktion und ihr anschließendes Funktionieren benötigt man subtraktive Magie. Im Augenblick versuchen wir, den Zauber in seiner Gesamtheit zu begreifen - in seinen additiven wie auch den subtraktiven Bestandteilen.«
Das klang, fand er, durchaus vernünftig, trotzdem war ihm deswegen keine Spur wohler bei der Sache. »Und Nicci hat sich selbst dazu bereit erklärt?«
Nathan räusperte sich. »Es war sogar ihre Idee.«
Natürlich. Manchmal konnte sich Richard des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Frau eine gewisse Todessehnsucht verspürte. In Momenten wie diesen wünschte er sich, mehr über diese Dinge zu wissen. Er kam sich wieder einmal unwissend vor. Mit einer Handbewegung erfasste er das gesamte Arrangement, das dort über dem Tisch schwebte. »Mir war gar nicht bewusst, dass man für Prüfnetze Menschen benutzt. Ich meine, ich wusste gar nicht, dass solche Netze auf diese Weise um jemanden herum gewirkt werden.«
»Das war auch uns nicht vollkommen klar«, erklärte Nathan mit der ihm eigenen tiefen, Autorität gebietenden Stimme.
Unter dem Blick des Propheten fühlte Richard sich unbehaglich, also wandte er sich an Zedd. »Was soll das heißen?«
Zedd zuckte die Achseln. »Es ist das erste Mal, dass einer von uns jemals eine Gestaltanalyse eines Überprüfungsnetzes aus einer Innenperspektive vornimmt. Ein solches Vorgehen erfordert subtraktive Magie, weshalb wahrscheinlich seit Tausenden von Jahren nicht mehr versucht wurde, auf diese Weise ein Prüfnetz zu wirken.«
»Und woher wusstet ihr dann, wie man es macht?«
»Die Tatsache, dass keiner von uns so etwas jemals gemacht hat«, warf Ann ein, »bedeutet noch lange nicht, dass wir uns nicht eingehend mit verschiedenen Schilderungen dessen befasst haben.«
Zedd wies auf einen der anderen Tische. »Wir haben das Buch durchgearbeitet, das du gefunden hast - Feuerkette, ein Werk, komplexer als alles, was irgendjemand von uns je zu Gesicht bekommen hat, daher war uns sehr daran gelegen, es bis in alle Einzelheiten zu verstehen. Wir haben zwar bislang auch noch nie eine Innenperspektive durchgeführt, im Grunde aber ist es nichts anderes als eine Erweiterung dessen, was wir bereits kennen. Wenn man sich mit der Handhabung eines Standardprüfnetzes auskennt und man über die erforderlichen Aspekte der Gabe verfügt, ist es auch möglich, die Gestaltanalyse aus der Innenperspektive durchzuführen. Und genau das tut Nicci gerade - weshalb auch nur sie dafür in Frage kam.«
»Wenn es ein Standardverfahren gibt, wieso war dann diese Methode erforderlich?«
Zedd wies mit der Hand auf die Linien, die Nicci umgaben.
»Angeblich stellt eine Innenperspektive die Bannform sehr viel detaillierter - nämlich auf einer elementareren Ebene - dar, als man sie bei einem Standardprüfverfahren zu sehen bekommt. Und da sie gewissermaßen aussagekräftiger ist als das übliche Standardverfahren, sind wir alle darin übereingekommen, dass es von Vorteil wäre, es auf diese Weise zu versuchen.«
Richard begann wieder ein wenig unbeschwerter zu atmen. »Niccis Einsatz war also einfach das Ergebnis einer abstrakten Analyse und hat weiter nichts zu bedeuten.«
Zedd löste den Blick von Richards Augen und rieb sich sachte über die tiefen Falten auf seiner Stirn. »Es handelt sich lediglich um ein Überprüfungsverfahren, Richard, nicht um das Auslösen der Reaktion an sich. In gewisser Hinsicht ist es also nicht einmal real. Was der eigentliche Bann im Handumdrehen bewirkt, wird bei dieser inaktiven Variante zu einem extrem langwierigen Prüfverfahren ausgeweitet, um so eine umfassende Analyse zu ermöglichen. Auch wenn es nicht vollkommen risikolos ist, das, was du hier rings um Nicci siehst, ist nicht der aktive Bann.«
Zedd räusperte sich. »Hätte man den eigentlichen Bann gewirkt, würde man hier an Niccis Stelle Kahlan sehen, und alles wäre nur allzu wirklich.«
Eine Gänsehaut überlief Richards Arme, und sein Mund wurde plötzlich so trocken, dass er kaum noch sprechen konnte. Er fühlte sein Herz durch die Adern bis in seinen Hals pumpen. Alles in ihm sträubte sich, dass dies die Wahrheit sein sollte.
»Aber eben sagtest du doch, du hättest Nicci gebraucht, um dieses Netz zu wirken. Du sagtest, es sei dir nur deswegen möglich gewesen, weil sie subtraktive Magie wirken kann. Kahlan wäre gar nicht imstande gewesen, dasselbe für die Schwestern zu tun - zumal sie sich auf keinen Fall dafür hergegeben hätte.«
Zedd schüttelte den Kopf. »Die Schwestern hatten bereits damit begonnen, den eigentlichen Bann um Kahlan zu wirken. Sie hatten subtraktive Magie zur Verfügung und wären auf Kahlans Mitwirkung gar nicht angewiesen gewesen. Wir dagegen benötigten Nicci, um ihn unter Berücksichtigung sowohl der additiven wie auch der subtraktiven Gesichtspunkte von innen zu wirken, und auf diese Weise einen Versuch zur Bestimmung seiner Funktionsweise zu unternehmen. Diese beiden Vorgänge sind durchaus nicht identisch.«
»Gut, aber wie ...«
»Richard«, schnitt ihm sein Großvater sanft das Wort ab, »wie ich bereits sagte, sind wir ziemlich beschäftigt. Dies ist nicht der rechte Augenblick, das auszudiskutieren. Wir müssen den Prozess im Auge behalten und versuchen, das Ausgleichsverhalten des Banns zu bestimmen. Lass uns unsere Arbeit machen, ja?«
Richard verstummte. Den Blick staunend auf die Linien vor sich gerichtet, begann er, den Rhythmus zu erkunden, der sich hinter diesen Linien verbarg, ihr Muster, ihre fließende Bewegung. Und dabei bekam er eine erste Ahnung, was sie bedeuten könnten. Er begann, einen Sinn in ihrer Anordnung zu erkennen.