»Hier, an dieser Stelle, stimmt etwas nicht«, sagte er mit einem missbilligenden Blick auf das aus Licht gewobene Geflecht. Zedd blieb unvermittelt stehen. »Stimmt etwas nicht?«
Richard war gar nicht aufgefallen, dass er laut oder zumindest laut genug gesprochen hatte, sodass die anderen ihn hören konnten. »Ja, ganz recht. Etwas stimmt nicht.«
5
Richard widmete sich weiter dem Studium der Linien und neigte den Kopf zur Seite, um sie besser verfolgen zu können, wie sie in einem komplizierten, sich immer wieder überschneidenden Muster aus allen Richtungen kommend schließlich genau vor Niccis Körpermitte zusammenliefen. Ganz allmählich bekam er eine Ahnung von der Bedeutung dieser Routen und von der übergreifenden Absicht, die sich hinter dieser Anordnung verbarg.
»Meiner Meinung nach fehlt dort eine Stützkonstruktion.« Er deutete mit einem Finger nach links hinüber. »Es sieht ganz so aus, als hätte sie dort beginnen sollen, meint ihr nicht auch? Es scheint, als sollte von dieser Stelle eine Linie hier entlang nach oben und dann wieder zurück zu der Stelle neben ihrem Ellbogen führen.«
Die Aufmerksamkeit ganz vom Rhythmus der Linien in Anspruch genommen, war er für das Geschehen im Rest des Raumes weitgehend nicht mehr empfänglich.
»Es ist völlig ausgeschlossen, dass du so etwas wissen kannst«, stellte Ann entschieden fest.
Er ließ sich von ihrer Skepsis nicht beirren. »Wenn man einen Kreis mit einer leichten Delle darin gezeigt bekommt, dann weiß man doch wohl, dass da etwas nicht stimmt, oder nicht? Man erkennt die beabsichtigte Form und weiß, dass besagte Delle dort nicht hingehört.«
»Richard, wir haben es hier nicht einfach nur mit einem simplen Kreis zu tun. Du weißt ja nicht einmal, was du vor dir hast.« Ehe sie ihre Stimme noch mehr hob, fing sie sich wieder, verschränkte die Hände vor dem Körper und atmete einmal tief durch. Dann fuhr sie fort. »Ich möchte lediglich daran erinnern, dass hier ein überaus hohes Maß an Komplexität vorliegt, von dem du unmöglich Kenntnis haben kannst. Wir drei haben noch nicht einmal ansatzweise begonnen, den hinter dieser Bannform verborgenen Mechanismus zu entschlüsseln, und wir verfügen über eine umfassende Ausbildung in diesen Dingen. Aber trotz unserer Ausbildung und unseres Wissens ist ihre Entwicklung längst noch nicht so weit abgeschlossen, dass wir ihre Funktionsweise begreifen könnten. Hier sind überaus komplexe Prinzipien im Spiel, von denen du wirklich rein gar nichts verstehst.«
Ohne sich zu ihr herumzudrehen, tat Richard ihren Einwand mit einer knappen Handbewegung ab. »Spielt alles keine Rolle. In jedem Fall ist die Form emblematisch.«
Nathan neigte den Kopf zur Seite. »Sie ist was?«
»Emblematisch«, murmelte Richard, während er einen Linienschnittpunkt betrachtete und dabei den Hauptstrang der Anordnung ausfindig zu machen versuchte.
»Ach ja?«, sprudelte es aus Zedd hervor, als Richard sich erneut seiner stummen Betrachtung widmete.
»Ich bin ein wenig vertraut mit der Sprache der Embleme«, sagte er gedankenverloren, nachdem er den Hauptstrang entdeckt hatte, ihm mit dem Finger durch das Auf und Ab und die Wirbel des Musters gefolgt war und sich dabei mehr und mehr auf seinen Zweck einzustimmen vermochte. »Das sagte ich euch doch schon.«
»Wann soll das gewesen sein?«
»Damals, als wir bei den Schlammmenschen waren.« Er vertiefte sich erneut in den Fluss der Konstruktion und versuchte, dabei den ansteigenden Verlauf innerhalb der untergeordneten Verästelungen zu erkennen. »Kahlan war ebenfalls dort. Und Ann auch.«
»Ich fürchte, das muss uns irgendwie entfallen sein«, gestand Zedd, nachdem er Ann frustriert den Kopf hatte schütteln sehen. Er stieß einen unglücklichen Seufzer aus. »Noch eine Erinnerung aus Kahlans Umfeld, die für uns wegen der Untaten der Schwestern verloren ist.«
Richard hörte ihn kaum. Mit wachsender Erregung deutete er mit dem Finger fuchtelnd auf eine Unterbrechung in den Linien unmittelbar unterhalb von Niccis Ellbogen. »Und ich sage euch, hier fehlt eine Linie. Ich bin mir ganz sicher.« Richard wandte sich herum zu seinem Großvater, und in diesem Moment bemerkte er, dass ihn alle anstarrten. »Genau hier«, erklärte er ihnen, indem er erneut darauf zeigte, »zwischen dem Ende dieses ansteigenden Bogens hier und dieser Überschneidung von Dreiecken müsste sich eine Linie befinden.«
Zedd runzelte die Stirn. »Eine Linie?«
»Ja.« Er verstand gar nicht, wieso ihnen das nicht schon früher aufgefallen war. Für Richard war es so sonnenklar, als hätte man beim Singen eines Liedes einen Ton der Melodie weggelassen. »Eine Linie fehlt, und zwar eine wichtige.«
»Eine wichtige«, wiederholte Ann im Tonfall erschöpften Verdrusses.
Richard, dessen Erregtheit mit jedem Augenblick zunahm, wischte sich mit der Hand über den Mund. »Eine überaus wichtige.«
Zedd seufzte. »Richard, wovon redest du überhaupt?«
»Seht doch«, sagte Richard und wandte sich wieder zu ihnen herum,
»es ist ein Emblem, ein Muster. Mit einem solchen Muster verhält es sich genau so wie mit einer Übersetzung aus einer anderen Sprache. In gewisser Weise ist es dasselbe, was ihr durch das Wirken eures Prüfnetzes zu verstehen versucht. Im Großen und Ganzen beschreibt diese Form ein Phänomen exakt so, wie eine mathematische Gleichung physikalische Eigenschaften beschreibt, etwa wie eine Gleichung, die das Verhältnis von Umfang und Radius eines Kreises ausdrückt. Emblematische Formen können auch eine Art Sprache sein, genau wie Mathematik eine Form von Sprache ist. Beide sind in der Lage, etwas über das Wesen der Dinge zu offenbaren.«
Geduldig strich Zedd sich das Haar aus dem Gesicht. »Du betrachtest Embleme also als eine Form der Sprache?«
»In gewisser Weise. Nimm zum Beispiel die Huldigung unter Nicci. Sie ist ein Emblem. Der äußere Kreis stellt den Beginn der Unterwelt dar, während der innere Kreis die Grenzen der Welt des Lebens beschreibt. Das Quadrat, das beide voneinander trennt, stellt den Schleier zwischen diesen Welten dar. In der Mitte befindet sich ein achteckiger Stern, der für das Licht des Schöpfers steht. Die acht Linien, die strahlenförmig von den Zacken des Sternes ausgehen und bis durch den äußeren Kreis stoßen, verkörpern die Gabe, die von der Schöpfung durch das gesamte Leben, schließlich durch den Schleier und weiter bis in den Tod reicht. Das gesamte Gebilde ist ein Emblem; wenn man es betrachtet, nimmt man es als eine zusammenhängende Idee wahr. Man könnte also sagen, dass man seine Sprache versteht.
Wenn nun beim Wirken eines Bannes ein mit der Gabe Gesegneter eine Huldigung unsauber zeichnet - sich also der Sprache in unzulänglicher Weise bedient -, wird sie ihre beabsichtigte Wirkung verfehlen, ja, möglicherweise kommt es sogar zu Schwierigkeiten. Angenommen, du hättest eine Huldigung mit einem neunzackigen Stern vor dir, oder eine, der die Kreise fehlen, würdest du nicht auf der Stelle wissen, dass etwas nicht stimmt? Wenn das Quadrat, das den Schleier darstellt, unkorrekt gezeichnet wäre, könnte unter den entsprechenden Umständen dadurch theoretisch sogar der Schleier zerrissen werden und die beiden Welten einander durchdringen. Sie ist ein Emblem, mithin versteht man die Idee, für die es steht, denn man "weiß ganz einfach, wie sie aussehen sollte. Und wenn sie fehlerhaft gezeichnet ist, erkennt man sie als unkorrekt.«
Als das Gleißen der Blitze flackernd zum Erliegen kam, verströmte der Raum im trüben Schein der Lampen plötzlich ein Gefühl von Verlassenheit. Von unten aus dem Tal rollte drohend dumpfes Donnergrollen herauf.
Zedd, mittlerweile vollkommen regungslos verharrt, musterte Richard jetzt konzentrierter als zuvor das Überprüfungsnetz. »Auf diese Weise habe ich es noch nie so recht betrachtet, Richard, aber ich gebe zu, an deiner Sichtweise könnte etwas dran sein.«