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Warum nicht? Wenn ihre graphische Darstellung dem Ursprung nach biologisch war, was den Tatsachen entsprach, wie er wusste, dann sollte laut Zedd in dieser bildlichen Wiedergabe irgendein Quellenmuster zum Ausdruck kommen. Aber das gab es nicht. Es war nichts weiter als ein verwirrendes Durcheinander, ein verworrenes Gebilde aus ineinander verschlungenen, bedeutungslosen Linien.

Und dann dämmerte es ihm. Er meinte einen winzigen Teilbereich innerhalb dieses Durcheinanders wieder zu erkennen. Er schien ... irgendwie flüssig. Aber das ergab keinen Sinn, denn gleichzeitig entdeckte er einen anderen Teilbereich, der fast das genaue Gegenteil zu sein schien. Der andere Bereich sah eher aus wie eine emblematische Darstellung des Feuers.

Es sei denn, das Ganze bestand aus mehr als einem Element. Ein Baum konnte durch ein Eichenblattemblem, eine Eichel oder aber eine Darstellung des gesamten Baums verkörpert werden. Und wo stand geschrieben, dass es nicht drei unterschiedliche Dinge sein konnten, die die Bannform gemeinsam verunreinigten? Drei Dinge.

Dann sah er sie - jedes einzelne der drei Elemente. Wasser. Feuer. Luft.

Sie alle drei waren es, ganz und gar ineinander verwoben.

»Bei den Gütigen Seelen«, entfuhr es Richard leise, während sich seine Augen weiteten.

Er straffte sich. Gänsehaut kroch kribbelnd seine Arme hoch. »Holt sie da raus.«

»Richard«, versuchte Nathan zu beschwichtigen, »sie ist da drinnen vollkommen ...«

»Holt sie da raus! Und zwar auf der Stelle!«

»Richard ...«

»Ich hab’s euch gesagt - die Bannform hat einen Fehler!«

»Also, genau das versuchen wir doch herauszufinden, oder?«, sagte Ann im Tonfall übertriebener Geduld.

»Ihr begreift nicht.« Richard wies auf die Wand aus matt leuchtenden Linien. »Es ist nicht die Art Fehler, die jeder suchen würde. Dieser Fehler wird sie umbringen. Der Bann ist nicht mehr inaktiv - er ist im Begriff zu mutieren. Er wird lebendig.«

»Lebendig?« Zedd verzog ungläubig das Gesicht. »Wie in aller Welt konntest du ...«

»Ihr müsst sie da rausholen! Sofort!«

6

Nicci war weder imstande, sich zu bewegen, noch zu sprechen, und doch bekam sie alles mit, was gesagt wurde, wenngleich die Worte irgendwie hohl klangen, weit entfernt und vergänglich, so als drangen sie aus einer fernen Welt jenseits des grünlichen Gebildes an ihr Ohr.

Am liebsten hätte sie geschrien: Hört auf ihn!, aber fest eingebunden im Innern des Gewirkes war ihr das unmöglich.

Vor allem wollte sie nichts anderes als raus aus diesem Geflecht erdrückender magischer Kräfte, die sie umfingen.

Bis zu diesem Moment war ihr die wahre Bedeutung einer Innenperspektive nicht recht klar gewesen - keinem von ihnen. Keiner von ihnen hätte mehr als eine vage Vermutung über die tatsächlichen Auswirkungen abzugeben vermocht. Erst nachdem das Verfahren in Gang gebracht worden war, hatte sie herausgefunden, dass eine solche Perspektive nicht einfach nur die Möglichkeit darstellte, ein Prüfnetz detaillierter von innen zu betrachten, wie alle angenommen hatten, sondern dass diese Methode es der die Analyse durchführenden Person ermöglichte, sie in ihrem Innern selbst zu erfahren. Doch da war es bereits zu spät gewesen, und sie hatte den anderen nicht mehr mitteilen können, dass es in Wahrheit bedeutete, dass sie die Bannform so erlebte, als hätte sie sie in ihrem Innern selbst erzeugt. Der sie umhüllende Teil war lediglich die Aura der gewirkten, in ihrem Innern erwachten Energien. Anfangs war die Erfahrung noch überraschend gewesen, eine beinahe an das Göttliche grenzende Offenbarung.

Doch kurz nach dem Ingangsetzen hatte irgendetwas aus dem Ruder zu laufen begonnen. Was zunächst eine zutiefst berückende Art der Wahrnehmung gewesen war, war zu einer grauenhaften Tortur entartet. Jede neue Linie, die sich durch den Raum um ihren Körper zog, besaß eine Entsprechung in ihrem Innern, die sich anfühlte, als schneide sie durch ihre Seele.

Zunächst hatte sie die Erfahrung gemacht, dass ein Teil jenes Mechanismus, mit dem man den Bann in seiner Entwicklung wahrnahm, Freude war. Ganz so, wie man ein Gefühl der Freude als Bestätigung der förderlichen, angenehmen Aspekte des Lebens betrachten konnte, so offenbarte auch dieses Gefühl das feingesponnene Wesen des Banns in seiner ganzen Pracht. Es war, als beobachtete man einen besonders schönen Sonnenaufgang, als probierte man ein köstliches Naschwerk oder blickte in die Augen eines geliebten Menschen und erlebte, wie dieser den Blick erwiderte. Oder zumindest war es so, wie sie sich das Gefühl vorstellte, wenn jemand diesen Blick erwiderte.

Gleichzeitig aber machte sie die Erfahrung, dass Schmerz, wie im Leben auch, auf schwerwiegende Störungen hindeutete. Nicci hätte nie geahnt, dass diese Methode einst ein gebräuchliches Mittel war, die innere Funktionsweise entworfener Magie zu untersuchen - ihre innere Verträglichkeit auszuloten. Nie hätte sie die Komplexität oder das Ausmaß dessen geahnt, was dieses Verfahren zu offenbaren vermochte. Nie hätte sie vermutet, wie außerordentlich schmerzhaft es sein konnte, wenn im Innern des Banns etwas verkehrt lief. Mittlerweile fragte sie sich, ob sie auch darauf bestanden hätte, wenn sie es gewusst hätte. Vermutlich ja, vorausgesetzt, es hätte die Chance bestanden, dass es Richard half.

Augenblicklich dagegen zählte für sie kaum etwas anderes als die Schmerzen, die mittlerweile alles jemals Erlebte übertrafen. Nicht einmal der Traumwandler hatte ihr solche Schmerzen zu bereiten vermocht. Sie konnte fast nichts anderes denken als den Wunsch, endlich von dieser Marter erlöst zu werden. Das Ausmaß der Verunreinigung im Innern des Banns war so gewaltig, dass sie nicht im Mindesten daran zweifelte, dass diese Erfahrung für sie nur tödlich enden konnte.

Richard hatte den anderen die Stelle gezeigt, wo der Bann angefangen hatte, aus dem Ruder zu laufen, und sie auf den grundlegenden Konstruktionsfehler hingewiesen. Die im Innern des Banns verborgene Verunreinigung war auf dem besten Weg, sie innerlich zu zerreißen. Schon meinte sie zu spüren, wie ihr Leben jenseits dieses schrecklichen äußeren Kreises der Huldigung versickerte. Die Huldigung, mit ihrem eigenen Blut gezeichnet, war zu ihrem Leben geworden. Und würde höchstwahrscheinlich schon bald ihr Tod sein. Im Augenblick war Nicci zwischen zwei Welten gefangen, von denen keine für sie vollends wirklich war. Obwohl noch immer in der Welt des Lebens gefangen, konnte sie sich bereits unerbittlich in das dunkle Nichts dahinter hinübergleiten fühlen.

Und die ganze Zeit wurden die Schwingungen der Welt des Lebens rings um sie her beständig schwächer.

In diesem Moment wäre sie bereit gewesen, dies alles loszulassen, sich für immer in die Ewigkeit der Nichtexistenz hinübertreiben zu lassen, sofern es nur bedeutete, dass der Schmerz nachließ. Obwohl vollständig ihrer Bewegungsfähigkeit beraubt, konnte Nicci alles im Raum sehen - zwar nicht mit den Augen, aber mithilfe ihrer Gabe. Trotz ihrer ungeheuren Schmerzen ahnte sie, dass eine solch exotische Form der Wahrnehmung eine außerordentliche Erfahrung war. Das Sehen ausschließlich kraft ihrer Gabe war von einer einzigartigen Qualität, die an Allwissenheit grenzte. Sie vermochte mehr aufzunehmen, als ihre Augen ihr jemals zu sehen erlaubt hatten. Trotz ihrer ungeheuren Qualen war es ein Gefühl von stiller Erhabenheit.

Jenseits des Gewirkes aus grünlichen Linien blickte Richard von einem Gesicht zum anderen.

»Was ist nur los mit euch? Ihr müsst sie da rausholen!«

Noch ehe Ann zu einem ihrer vorwurfsvollen Vorträge ansetzen konnte, bedeutete Zedd ihr, still zu sein, und wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Enkelsohn zu.

Soeben verließ eine weitere Linie einen Kreuzungspunkt und zeichnete einen Pfad durch den Raum. Für Nicci fühlte es sich an, als würde mit stumpfer Nadel eine Naht durch ihre Seele gestochen und der quälende Schmerz dieses Fadens aus Licht durch sie hindurchgezogen, während er sie gleichzeitig immer fester mit einem rätselhaften Tod verband. Sie schaffte es gerade eben, nicht das Bewusstsein zu verlieren.