Zedd deutete mit einer fahrigen Bewegung auf sie. »Das können wir nicht tun, Richard. Diese Dinge müssen einem bestimmten Verlauf folgen. Das Prüfnetz durchläuft eigenständig eine Reihe von Verbindungen und gibt auf diese Weise Informationen über sein Wesen preis. Hat der Prüfvorgang einmal begonnen, kann er nicht mehr angehalten werden. Er muss durchlaufen bis zum Ende, bis er schließlich erlischt.«
Eine bittere Wahrheit, derer sich Nicci nur zu bewusst war. Richard fasste seinen Großvater beim Arm. »Und wie lange dauert das?«
Zedd antwortete: »Wir haben einen solchen Bann noch nicht beobachtet, deshalb lässt es sich schwer sagen. Aber angesichts der sich abzeichnenden Komplexität kann ich mir nicht vorstellen, dass es weniger als drei oder vier Stunden dauert. Eine Stunde ist sie schon dort drin, also wird es noch mehrere Stunden dauern, bis er das Verfahren durchlaufen hat und wieder erlischt.«
Nicci wusste nur eins: Sie konnte auf keinen Fall noch stundenlang durchhalten. Ihr blieben vielleicht noch wenige Augenblicke, bis der Sog der Verunreinigung sie endgültig hinter den Schleier und in das Totenreich gezogen haben würde.
Sie fand, es war eine seltsame Art, aus dem Leben zu scheiden. So unerwartet, so ohne jede Dramatik. So sinnlos. Sie hätte sich wenigstens ein Ende gewünscht, das Richard in irgendeiner Weise half, oder das eingetreten wäre, nachdem sie sicher sein konnten, etwas erreicht zu haben. Sie wünschte, sie könnten wenigstens einen kleinen Nutzen aus ihrem Tod ziehen.
Richard drehte sich um und blickte zu ihr hoch. »So lange hält sie auf keinen Fall mehr durch. Wir müssen sie jetzt sofort rausholen.«
Trotz ihrer ungeheuren Schmerzen lächelte sie innerlich. Bis zum Ende - Richard würde bis zum Ende gegen den Tod ankämpfen.
»Richard«, widersprach Zedd, »ich kann mir nicht vorstellen, woher du so etwas überhaupt wissen willst. Was nicht etwa heißen soll, dass ich dir nicht glaube, trotzdem können wir ein Prüfnetz nicht einfach abschalten.«
»Warum nicht?«
»Nun ja«, sagte er mit einem Seufzer, »die Wahrheit ist, ich weiß nicht mal, ob es überhaupt möglich ist, aber selbst wenn, wüsste keiner von uns, wie es zu bewerkstelligen wäre. Schon das Standardprüfverfahren errichtet eigenständig Schutzvorkehrungen, um sich gegen alle unsachgemäßen Eingriffe abzusichern, und dieses Ding hier ist um Größenordnungen komplexer und umfassender.«
»Es ist etwa so, als versuchte man mitten im Galopp abzusitzen, während man einen Grat entlangjagt«, setzte der Prophet hinzu.
»Man muss warten, bis das Pferd ausgelaufen ist, ehe man abspringt, oder man riskiert, sich in den Tod zu stürzen.«
Während Richard zum Tisch zurückging und nervös die aus Licht gebildete Struktur betrachtete, fragte sich Nicci, ob ihm bewusst war, dass das, was er hier sah, zwar in gewisser Hinsicht greifbar war, dem Wesen nach aber nur als Aura existierte, die jene reellen Kräfte repräsentierte, die in ihrem Innern tobten.
Als sich abermals eine Linie von einem Kreuzungspunkt entfernte, in einem kolossal verkehrten Winkel, stöhnte Nicci innerlich auf. Sie spürte, wie etwas Lebenswichtiges in ihrem Innern langsam aufgerissen wurde, begleitet von einem Schmerz, der ihr bis ins Mark ging. Dann sah sie, wie sich eine Schicht aus Dunkelheit über den Raum herabsenkte, und wusste, sie blickte in eine andere Welt, in jene dunkle Welt, wo es keine Schmerzen mehr gab. Sie ließ sich auf jene dunkle Welt zutreiben.
Plötzlich erblickte sie etwas in den jenseitigen Schatten. Sie fing sich noch einmal und sperrte sich dagegen, die dunkle Schwelle des Todes schon jetzt zu überschreiten.
Ein Etwas mit leuchtenden, wie zwei glühende Kohlen glimmenden Augen starrte ihr aus den dunklen Schatten entgegen. Die böswillige Absicht dieses Glutofenblicks war eindeutig gegen Richard gerichtet. Verzweifelt bemühte sich Nicci, einen Warnruf auszustoßen. Es zerriss ihr das Herz, dass sie nicht dazu imstande war.
»Seht doch«, hauchte Richard, als er zu ihr hochschaute, »eine Träne rinnt über ihre Wange.«
Traurig schüttelte Ann den Kopf. »Wahrscheinlich, weil sie nicht blinzelt, das ist alles.«
Die Hände zu Fäusten geballt, bewegte er sich um den Tisch herum und versuchte, die Bedeutung der Linien zu entschlüsseln.
»Wir müssen einen Weg finden, dieses Ding abzuschalten. Es muss doch irgendwie möglich sein.«
Behutsam legte ihm sein Großvater von hinten eine Hand auf die Schulter. »Ich schwöre es, Richard, wenn ich könnte, würde ich tun, was du verlangst, aber ich kenne keine Methode, um ein Prüfnetz abzuschalten. Und überhaupt, was regt dich eigentlich so auf? Warum die plötzliche Eile? Was verunreinigt deiner Meinung nach die Bannform?«
Niccis ganze Aufmerksamkeit galt dem Etwas, das aus dem schattigen Totenreich hervorlugte. Wann immer das Blitzen aufloderte und den Raum hell erleuchtete, war das Wesen mit den leuchtenden Augen nicht vorhanden. Aber kaum hatte sich wieder Dunkelheit über den Raum gelegt, konnte sie es sehen. Richard riss seine Augen von der Betrachtung der Linien fort und schaute hinauf in Niccis Gesicht. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als dass er die Hand ausstrecken und sie aus den Qualen dieses Banns befreien möge, der sie auf tödlichen Fragmenten von Magie aufgespießt hatte, aber sie wusste, er konnte nicht. Für einen einzigen Moment in seinen Armen hätte sie in diesem Augenblick bereitwillig ihr Leben hergegeben.
Endlich kam Richards Antwort - und es klang wie milde Resignation. »Die Chimären.«
Ann verdrehte die Augen. »Die Chimären? Ich fürchte, Richard, diesmal hast du etwas gründlich falsch verstanden. Das ist einfach unmöglich. Die Chimären sind Wesen der Unterwelt, und wiewohl sie zweifellos danach trachten, in unsere Welt zu gelangen, ist es ihnen vollkommen unmöglich. Sie sind auf ewig in der Unterwelt gefangen.«
»Ich weiß sehr wohl, was Chimären sind«, gab Richard beinahe im Flüsterton zurück. »Kahlan hat sie befreit. Sie ließ sie frei, um mir das Leben zu retten.«
»Sie konnte unmöglich wissen, wie man so etwas macht.«
»Nathan hat es ihr verraten, und er nannte ihr auch ihre Namen:
Reechani, Sentrosi, Vasi. Wasser, Feuer, Luft. Sie zu rufen war ihre einzige Möglichkeit, mir das Leben zu retten. Es war eine Verzweiflungstat.«
Vor Überraschung klappte Nathan der Mund auf, widersprach jedoch nicht. Ann schickte einen vorwurfsvollen Blick in Richtung des Propheten.
Zedd breitete die Hände aus. »Sie mag vielleicht in dem Glauben gewesen sein, sie zu rufen, Richard, aber ich kann dir versichern, ein solcher Vorgang wäre von monumentaler Komplexität. Zudem hätten wir davon erfahren, wenn sich die Chimären frei in unserer Welt bewegt hätten. In diesem Punkt kannst du also ganz unbesorgt sein. Die Chimären sind nicht los.«
»Nicht mehr«, erklärte Richard mit bitterer Endgültigkeit. »Ich habe sie wieder in die Unterwelt verbannt. Aber Kahlan war stets im Glauben, die Zerstörung der Magie - und damit auch jener Dominoeffekt, den du uns beschrieben hast - habe erst damit begonnen, dass sie sie ahnungslos in unsere Welt gerufen hatte.«
Zedd schien bestürzt. »Dominoeffekt..., das kannst du eigentlich nur von mir haben.«
Richard nickte, während er starren Blicks seinen Erinnerungen nachhing. »Sie versuchte mich davon zu überzeugen, dass die Magie durch die Anwesenheit der Chimären vergiftet worden und diese Vergiftung selbst durch ihre Rückverbannung in die Unterwelt nicht aufzuhalten sei. Mir war nie wirklich klar, ob sie damit recht hatte oder nicht. Jetzt weiß ich es.«
Er wies nach oben, auf jene entsetzliche Stelle vor Niccis Körper, das Zentrum ihres Schmerzes, ihrer Qual, ihres Endes.
»Da ist der Beweis. Ursache sind nicht die Chimären, sondern die durch ihre Anwesenheit hervorgerufene Verunreinigung: die Vergiftung der Magie. Diese Vergiftung hat die Welt befallen; die Kraft dieser Magie hat sie angezogen. Sie hat den Feuerkettenbann infiziert und wird Nicci umbringen, wenn wir sie da nicht rausholen.«