Unterdessen war es im Raum noch dunkler geworden. Durch den Schleier aus Schmerzen konnte Nicci kaum noch etwas erkennen, wohl aber die unheilvollen, lauernden, abwartenden Augen in den Schatten hinter Richard. Niemand außer Nicci wusste, dass es sich dort befand, in dem geisterhaften Reich zwischen den Welten. Richard würde nie erfahren, was ihn angegriffen hatte. Und Nicci hatte keine Möglichkeit, ihn zu warnen.
Sie spürte, wie ihr eine weitere Träne über das Gesicht rann. Als er eben jene Träne von ihrem Kinn herabtropfen sah, beugte Richard sich näher und zeichnete mit dem Finger in stiller Entschlossenheit die Hauptstränge nach, die tragenden Knotenpunkte und das Stützwerk des Emblems, wie er es nannte.
»Es sollte machbar sein«, beharrte er.
Ann schien außer sich, enthielt sich aber jeder Bemerkung. Nathan verfolgte unbehaglich das Geschehen, in Resignation erstarrt. Zedd schob die Ärmel seines einfachen Gewandes ein Stück weiter seine knochigen Arme hinauf. »Richard, schon ein gewöhnliches Prüfnetz ist unmöglich abzuschalten, und erst recht eins wie dieses.«
»Nein, ist es nicht«, widersprach Richard gereizt. »Hier, siehst du? Als Erstes müsstet ihr diese Verbindung hier unterbrechen.«
»Unsinn, Richard. Der Bann schützt sich selbst. Dieses Netz bezieht seine Energie sowohl aus subtraktiver wie auch aus additiver Magie, es verfügt über aus beiden Arten gebildete Schilde.«
Einen Moment lang starrte Richard in das stark gerötete Gesicht seines Großvaters, dann wandte er sich wieder zu dem Gewirr aus Linien herum. Nach einem weiteren Blick hinauf zu Nicci schob er behutsam eine Hand durch das Geflecht aus Linien, in der Absicht, Niccis schwarzes Kleid zu berühren.
»Ich werde nicht zulassen, dass dieses Monster Euch bekommt«, versprach er ihr mit leiser Stimme.
Nie hatten Worte süßer geklungen, auch wenn sie wusste, dass er sich der Uneinlösbarkeit seines Versprechens unmöglich bewusst sein konnte.
Dann berührte sein Finger ihr Kleid, und auf einmal wechselten die Muster von zwei- zu dreidimensionalen Formen, die eher einem Dornenbusch denn einer Bannform glichen.
Für Nicci fühlte es sich so an, als hätte er ihr ein Messer in die Eingeweide gestoßen und herumgedreht. Sie hatte größte Mühe, nicht das Bewusstsein zu verlieren, und konzentrierte sich auf die glimmenden Augen in den Schatten. Sie musste einen Weg finden, wie sie Richard warnen konnte.
Nach kurzem Innehalten zog er seine Hand behutsam wieder heraus. Das Muster verflachte und kehrte in seinen zweidimensionalen Zustand zurück.
Wäre sie in der Lage gewesen zu atmen, hätte Nicci vor Erleichterung geseufzt.
»Hast du das gesehen?«, fragte er.
Zedd nickte. »Aber gewiss.«
Richard sah zu seinem Großvater. »Sollte es das tun?«
»Nein.«
»Das dachte ich auch. Eigentlich sollte es inaktiv sein, aber die biologische Variable, die es verunreinigt, hat die Wirtsbannform ihrem Wesen nach verändert.«
Zedds Gesicht nahm einen angespannten Zug an, während er nachdachte. »Eins scheint ziemlich offensichtlich: Was immer hier geschieht, verändert die Funktionsweise des Banns.«
Richard nickte. »Schlimmer, es handelt sich um eine beliebige Variable. Die durch die Anwesenheit der Chimären in dieser Welt verursachte Verunreinigung ist biologischer Natur - sie entwickelt sich weiter, und das wahrscheinlich auf eine Weise, die es ihr ermöglicht, unterschiedliche Arten von Magie anzugreifen. Dieser Bann wird zweifellos weiter mutieren. Vermutlich lässt sich nicht vorhersagen, wie er sich verändern wird, aber nach dem, was wir hier sehen, scheint seine Bösartigkeit zuzunehmen. Und als wäre die Feuerkette noch nicht Kummer genug, könnte die Situation sich dadurch noch verschlimmern. Womöglich entwickelt sogar jeder, der davon befallen wird, Symptome, die über den um Kahlans Person kreisenden Gedächtnisverlust hinausgehen.«
»Wie kommst du auf diese Idee?«, fragte Zedd.
»Betrachte einmal, wie viele Erinnerungen an Ereignisse, die ausschließlich Kahlan berühren, euch allen verloren gegangen sind. Möglicherweise sind diese verloren gegangenen Erinnerungen sogar das Mittel, mit dessen Hilfe die Verunreinigung die von der Feuerkettenreaktion betroffenen Menschen infiziert.«
Als wäre der Umstand einer in der Welt entfesselten Feuerkettenreaktion noch nicht potenziell schädlich genug, schien sie jetzt über jedes Vorstellungsvermögen hinaus katastrophal. Ann war ganz unterdrückter Zorn. Zähneknirschend fragte sie:
»Woher hast du nur all diesen Unfug?«
Zedd bedachte sie mit einem tadelnden Blick. »Sei still.«
»Wie ich bereits sagte, kenne ich mich mit emblematischen Darstellungen aus. Und diese hier ist ein einziges Chaos.« Er setzte seinen Finger darauf.
Nathan sah zu den Fenstern hinüber, genau in dem Moment, als zuckende Blitze sie abermals aufleuchten ließen. Als sich schließlich wieder Dunkelheit über den Raum senkte, konnte Nicci auch wieder das Wesen sehen, das sie aus einer Welt der Finsternis beobachtete.
»Und du bist ernsthaft der Meinung, dass es für Nicci irgendwie schädlich ist?«, hakte Zedd nach.
»Ich weiß, dass es so ist. Sieh dir diese Abweichung an, hier. So etwas ist tödlich, auch ohne diese zusätzliche Unstimmigkeit hier drüben. Ich weiß eine ganze Menge über bildhafte Darstellungen mit todbringender Wirkung.«
Der Schatten machte einen Schritt nach vorn. Jetzt konnte Nicci seine Reißer erkennen.
Die soeben erloschene Linie fühlte sich an, als reiße sie ihr mit ihrem Erlöschen die Eingeweide heraus. Mit letzter Kraft klammerte sich Nicci ans Leben. Wenn er es tatsächlich schaffte, wenn es Richard tatsächlich gelänge, den Bann zu löschen, könnte sie ihn vielleicht noch warnen.
Vorausgesetzt, sie schaffte es, so lange durchzuhalten. Richard zog seinen Finger wieder zurück. Die Linie leuchtete erneut auf und durchbohrte sie wie eine rasiermesserscharfe Lanze. Die Welt begann zu flackern.
»Siehst du?«
Zedd streckte die Hand aus, um es Richard nachzutun, zog sie dann aber mit einem Aufschrei zurück, als hätte er sich versengt.
»Sie ist mit subtraktiver Magie gesichert«, stellte Ann fest. Zedd schickte einen mörderischen Blick in ihre Richtung.
»Erinnert ihr euch an die Schilde, damals im Palast der Propheten?«, wandte sich Richard an sie. »Erinnert ihr euch noch, wie mühelos ich sie passieren konnte?«
Ann nickte. »Ich habe jetzt noch Albträume deswegen.«
Wieder streckte Richard die Hand vor, schnell diesmal, und wieder unterbrach er die Lichtlinie. Sie erlosch erneut.
Dann legte Richard einen Finger seiner anderen Hand auf einen Knotenpunkt, der vor der erloschenen Linie lag. Im Nu gingen weitere Linien aus. Er bewegte seinen ersten Finger, um ihn an einem weiteren Knotenpunkt in die Bahn des Lichts zu halten, arbeitete sich auf diese Weise rückwärts durch das Muster, was zur Folge hatte, dass der Bann sich selbstständig zurückbildete. Die erloschene Linie raste um Nicci herum, traf auf Knotenpunkte, schwenkte abrupt ab, durchlief schwungvolle Bögen und verdunkelte auch diese. Die Linie, die Richard gelöscht hatte, hörte in dem Muster auf zu existieren, und ihre Abwesenheit bewirkte eine Unterbrechung in der Lebendigkeit des Rhythmus.
Die Reaktion der Bannform in ihrem Innern versetzte Nicci in Erstaunen. Sie konnte den Vorgang ihrer Zurückbildung, der sehr an das Schließen der Blütenblätter einer Blume erinnerte, bis ins kleinste Detail nachvollziehen.
Abermals schien der Raum in Niccis Sehvermögen der Gabe zu schimmern, so als flackerte draußen ein Blitz, nur wusste sie, es war kein Blitz.
Die glimmenden Augen zuckten suchend umher, so als spürte auch das Wesen die Schwankungen im Energiestrom, den Richard unterbrochen hatte.
Merkte außer ihr denn niemand, dass Richard seine Gabe benutzte, um diese Schilde zu durchbrechen? Waren sie denn alle blind? Der Gebrauch der Gabe lockte die Bestie doch erst aus der Unterwelt hervor!