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Seit sie Das Buch des Lebens übersetzt hatte, betrachtete Nicci den Garten des Lebens in einem neuen Licht. Sie sah ihn im Zusammenhang mit der Magie der Ordnung und der Art, wie der Raum genutzt worden war. Sie hatte wichtige Einsichten in den Ort erlangt, an dem die Kästchen zuletzt verwendet worden waren. Solch praktische Bezüge hatten ihr manche Frage beantwortet und einige ihrer eigenen Schlussfolgerungen bestätigt.

Schließlich erreichte Nathan eine Flügeltür, vor der Wachen standen. Er gab den Männern einen Wink, und sie öffneten die weißen Türen. Dahinter befand sich eine Mauer aus weißem Stein, die aussah, als wäre sie teilweise geschmolzen.

»Seid Ihr dort drin gewesen?«, fragte sie den Propheten.

»Nein«, gab er zu. »In meinem Alter versuche ich, mich von Grüften so fern wie möglich zu halten.«

Nicci trat über die niedrige Schwelle durch die insgesamt niedrige Öffnung. »Wartet hier«, sagte sie zu Cara, die ihr folgen wollte.

»Seid Ihr sicher?«

»Hier ist Magie im Spiel.«

Cara rümpfte die Nase, als hätte sie an saurer Milch gerochen, und wartete draußen beim Propheten.

Nicci schickte einen Funken Han zu einer Fackel an der Seite. Nach all der Zeit loderte sie trotzdem sofort auf. Nun sah sie, dass der riesige Raum mit der Gewölbedecke aus rosafarbenem Granit gebaut war. Der Boden bestand aus weißem Marmor. An den Wänden befanden sich Aberdutzende von goldenen Vasen, die jeweils in Nischen neben einer Fackel standen. Zerstreut zählte Nicci sie. Siebenundfünfzig. Die Zahl schien ihr eine Bedeutung zu haben. Vermutlich bezogen sich Vasen und Fackeln auf das Alter des Mannes, der in dem Sarg in der Mitte des Raums lag. Es war ein unbehaglicher Ort, nicht nur weil es sich um eine Gruft handelte. Nicci strich über die Symbole, die in die Granitwände unter den Vasen gehauen waren. Die Worte, die um den ganzen Raum und den goldenen Sarg liefen, waren in Hoch-D’Haran verfasst. Die Inschriften waren Anweisungen eines Vaters an seinen Sohn, über den Prozess, die Unterwelt zu betreten und wieder zurückzukehren. Was für ein Vermächtnis!

Solche Banne enthielten subtraktive Magie. Das verursachte das Schmelzen der Wände. Indem man den Raum mit einem besonderen Stein verkleidete, hatte man den Prozess deutlich verlangsamt, aber nicht vollkommen zum Stillstand gebracht.

»Und?«, fragte Nathan und steckte den Kopf durch das geschmolzene Loch. »Irgendwelche Ideen?«

Nicci kam heraus und wischte sich die Hände. »Ich weiß nicht. Unmittelbare Gefahr besteht nicht, glaube ich, aber hier sind dunkle Dinge im Spiel, daher kann ich mich auch täuschen. Ich denke, am besten würde man den Raum hinter einer Dreierbeschwörung abschirmen.«

Nathan nickte nachdenklich. »Wollt Ihr das machen? Mit subtraktiver Magie?«

»Besser wäre es, wenn Ihr es macht. Ihr seid ein Rahl. Das hätte größere Wirkung. Selbst wenn ich subtraktive Magie einsetze, enthält dies hier drin eine Mischung von beidem und wurde von einem Rahl gewirkt. Solche Kräfte wären imstande, jede Beschwörung zu durchbrechen, die ich hier unter den Beschränkungen durch den Schutzbann des Palastes vornehme.«

Das ließ er sich kurz durch den Kopf gehen. »Ich kümmere mich sofort darum.« Nathan warf noch einen Blick in die Gruft. »Habt Ihr eine Vorstellung, was den Bann dazu bringt durchzubrennen?«

»Aufs Geratewohl würde ich vermuten, es wurde ausgelöst, als oben im Garten des Lebens eines der Kästchen geöffnet wurde. Dadurch wurde wohl eine synchrone Reaktion in Gang gebracht. Noch ist sie nicht weit genug fortgeschritten, als dass ich das Ziel des subtraktiven Elements erkennen könnte, aber die Inschriften an Sarg und Wänden deuten darauf hin, dass die zusammengesetzte Komposition den Zweck hat, bei der Erlangung der Macht der Ordnung zu helfen, deshalb kam es zu einer harmonischen Reaktion, nachdem sie in der Nähe dieser spezifischen Kraft waren.«

Nathan blinzelte. »Gut. Ich mache eine Dreierbeschwörung und behalte die Sache im Auge.«

»Ich muss zurück. Später werde ich wieder vorbeischauen, einfach nur um zu erfahren, ob es Nachricht von Richard gibt und wie der Orden draußen vorankommt.«

»Sagt Zedd, ich habe hier alles im Griff und den Feind umzingelt.«

Nicci lächelte. »Ich werde es ihm ausrichten.«

Auf dem Weg durch die riesigen Hallen des Palastes, begleitet von Cara, hing Nicci ihren Gedanken nach. Sie war unsicher, was sie als Nächstes tun sollte. An allen Ecken und Kanten gab es dringliche Probleme. Die meisten erschienen vage und unbestimmt. Außerdem hatte sie niemanden, mit dem sie über das sprechen konnte, was ihr durch den Kopf ging. Zedd stellte eine gewisse Hilfe dar, mit Cara konnte sie dagegen über andere Dinge gut reden.

Aber Richard war der Einzige, der nachvollziehen konnte, wie sie mittlerweile die grundlegenden Punkte verstand. Eigentlich war es auch Richard gewesen, der sie in das Konzept der kreativen Magie eingeführt hatte. Sie erinnerte sich sehr gut an die Unterhaltung, die sie eines Nachts mit ihm im Lager geführt hatte. Es war einer dieser unvergesslichen Momente mit Richard gewesen.

Zudem musste Richard bestimmte Dinge wissen. Da waren beunruhigende Ereignisse, die mit ihm und den Kästchen der Ordnung zusammenhingen. Gewissermaßen hatte er Feuer unter Zutaten entzündet, die nicht nur gefährlich waren, sondern die zu brodeln und kochen begannen und sich möglicherweise auf äußerst heimtückische Weise verbanden, wenn man nicht dagegen einschritt. Dazu gehörten auch Prophezeiungen, die zu verstehen sie sich nicht zutraute, da sie keine Prophetin war. Andere Prophezeiungen glaubte sie sehr wohl zu begreifen und konnte nicht umhin, sie in ihre Überlegungen mit einzubeziehen.

Hauptsächlich ging es um diese Prophezeiung, die lautete: »Im Jahr der Zikaden« - welches das gegenwärtige Jahr war - »wenn der Vorkämpfer für Selbstaufopferung und Leid unter dem Banner der Menschheit und des Lichts endlich seinen Schwärm teilt« - was Jagang getan hatte -, »soll dies als Zeichen dafür dienen, dass die Prophezeiung zum Leben erweckt worden ist und uns die letzte und entscheidende Schlacht bevorsteht. Seid gewarnt, denn alle wahren Gabelungen und ihre Ableitungen sind in dieser seherischen Wurzel miteinander verknüpft. Ein einziger Hauptstrang nur zweigt von dieser Verknüpfung der allerersten Ursprünge ab.« Diese Zeit, in der es um alles oder nichts, Erfolg oder Scheitern ging, war gekommen, dieser Wendepunkt, der ein für alle Mal die Richtung für die Zukunft festlegen würde. »Wenn der fuer grissa ost drauka in dieser letzten Schlacht nicht die Führung übernimmt, dann wird die Welt, bereits jetzt am Abgrund ewiger Finsternis, unter ebendiesen fürchterlichen Schatten fallen.«

Diese Prophezeiung, das erkannte sie nun langsam, bezog sich auf die Kästchen der Ordnung, aber es wollte sich ihr nicht erschließen, wie. Gelegentlich hatte sie das Gefühl, kurz davor zu stehen, aber irgendwie entzog es sich ihr immer wieder. Knapp unter der Oberfläche dieser Prophezeiung gab es etwas, das der Schlüssel sein musste.

Zur gleichen Zeit spürte sie, dass die Ereignisse unaufhaltsam in Gang gekommen waren, und sie musste etwas unternehmen, damit sie nicht außer Kontrolle gerieten. Mit jedem Tag, der verstrich, schwanden ihre Möglichkeiten. Die Schwestern der Finsternis hatten die Kästchen ins Spiel gebracht und ihnen so die Möglichkeit genommen, sie ihrem Zweck gemäß einzusetzen: als Mittel gegen den Feuerkettenbann. Da der Feuerkettenbann durch die Chimären verunreinigt war, ging ihnen mehr und mehr die Fähigkeit verloren, ihre Gabe einzusetzen und so den Schaden zu beheben. Es ließ sich nicht sagen, wie lange sie überhaupt noch ausreichende Kontrolle über ihre Gabe hätten, und die wiederum war notwendig, um die Hindernisse zu überwinden, vor denen sie standen. Gleichzeitig hatte Das Buch des Lebens eine Bedeutung für sie bekommen, die sie sich niemals vorgestellt hätte. Sie hatte auch mehrere eher unbekannte Bücher gelesen, die Zedd für sie zum Thema Theorie der Ordnung gefunden hatte. Auch die hatten ihr Verständnis vertieft, nur um im Anschluss umso größere Fragen aufzuwerfen.