»Seid Ihr bereit zu tun, was ich sage? Oder wollt Ihr, dass Richard stirbt?«
Cara, noch immer völlig außer Atem von der Anstrengung, schien drauf und dran, ihr eine giftige Erwiderung zu geben, lauschte ihren Worten aber trotzdem aufmerksam. »Und was soll ich tun?«
»Haltet Euch bereit, mir zu helfen. Und seid bereit, genau das zu tun, was ich sage.«
Kaum hatte Cara zustimmend genickt, kletterte Nicci wieder auf den Tisch. Einen Fuß setzte sie in den Mittelpunkt der mit ihrem eigenen Blut gezeichneten Huldigung, den anderen außerhalb des äußeren Kreises.
Unterdessen schleuderten Zedd, Nathan und Ann der tobenden Bestie entgegen, was ihre Zauberkräfte hergaben: Netze aus Bogen schlagender Energie, die Steine hätte spalten, stark verdichtete Kräfte, die Eisen hätte biegen können, ein Hagel aus zu Klumpen verdichteter Luft, hart genug, um Knochen zu Staub zu pulverisieren. Nichts von alledem hatte auf die Bestie auch nur die geringste Wirkung - sei es, weil sie sich von ihren Kräften nicht beeindruckt zeigte, sei es, weil es die Attacken mit einer Armbewegung einfach brüsk zur Seite wischte oder ihnen ganz aus dem Weg ging, indem es aus dem diesseitigen Sein verschwand, nur um, kaum war die Gefahr vorüber, wieder aufzutauchen.
Sie richtete ihr Augenmerk abermals auf ihr eigentliches Ziel und stürzte sich auf Richard. Der warf sich zur Seite und stieß, in dem Versuch, einen ihrer Arme abzutrennen, sein Messer erneut in die zähe Haut der Kreatur - was, wie Nicci wusste, ebenfalls nichts nützen würde.
Während die anderen sich gegenseitig Anweisungen zubrüllten, bemüht, eine Möglichkeit zu finden, die Gefahr auszuschalten, wandte sich Cara, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, Richard zu helfen und dem Grauen, irgendwelche Anweisungen zu befolgen, herum und blinzelte hoch zu Nicci. »Was tut Ihr da?«
Nicci hatte keine Zeit, Fragen zu beantworten, und gestikulierte nur.
»Schafft Ihr es, diesen Kerzenleuchter dort hochzuheben?«
Cara sah über ihre Schulter. Der Leuchter bestand aus massivem Gusseisen und war mit zwei Dutzend Kerzen bestückt, von denen keine brannte.
»Denke schon.«
»Benutzt ihn wie eine Lanze. Drängt die Bestie zurück, hinüber zu den Fenstern ...«
»Und was, bitte, soll das nützen?«
Die Bestie stürzte auf Richard los und versuchte, ihre Arme um ihn zu schlingen. Richard brachte sich mit einer Körperdrehung in Sicherheit und landete dabei einen wuchtigen Tritt gegen ihren Kopf, der jedoch nicht viel mehr bewirkte, als sie vorübergehend ins Wanken zu bringen.
»Tut einfach, was ich sage. Benutzt ihn wie eine Lanze und drängt die Kreatur zurück. Und sorgt dafür, dass die anderen zurückbleiben und nicht im Weg stehen.«
»Glaubt Ihr wirklich, es wird sie aufhalten, wenn ich es schaffe, ihr eins mit dem Leuchter zu verpassen?«
»Nein. Aber sie lernt ständig dazu; immerhin wäre es für sie neu. Drängt sie einfach zurück. Es sollte sie vorübergehend verwirren oder zumindest vorsichtig machen. Sobald Ihr es geschafft habt, sie ein Stück nach hinten zu drängen, schleudert Ihr den Leuchter auf sie und bringt Euch in Sicherheit.«
Cara, die Lippen in frustrierter Wut fest aufeinander gepresst, überlegte nur einen Moment. Sie war eine Frau, die wusste, dass jedes Zögern von Übel sein konnte. Mit beiden Händen packte sie die schwere Mittelsäule des Kerzenständers und wuchtete ihn in einer gewaltigen Kraftanstrengung über ihren Kopf. Die Kerzen kippten aus ihren Halterungen, sprangen und rollten über den Steinfußboden. Nicci war sich des ungeheuren Gewichts des Kerzenständers durchaus bewusst, fand aber, dass Cara kräftig genug war, um damit zurechtzukommen. Die nötige Entschlossenheit, da bestand nicht der geringste Zweifel, besaß sie jedenfalls. Doch Nicci konnte sich nicht länger über Cara den Kopf zerbrechen. Sie verbannte sie aus ihren Gedanken, drückte beide Arme durch und richtete ihre Hände nach unten, auf die blutige Zeichnung der Huldigung unter ihr. All ihre Zweifel und Ängste außer Acht lassend, zog sie sich wie schon so viele Male zuvor gedanklich in das Zentrum des Han in ihrem Innern zurück. Als sie diesmal über der Huldigung stand, war es, als würde sie in ein eiskaltes, mit Energie gefülltes Becken gezogen.
Sie verdrängte das Schicksal, zu dem sie sich selbst zu verdammen im Begriff war, und drehte ihre Handflächen nach oben, um das Prüfnetz ganz allmählich wieder an seinen Zündpunkt zu bringen. Ganz unter dem Einfluss der Huldigung, konzentrierte sich Nicci jetzt auf die geistige Entsprechung des Entfernens der Sperren innerhalb der Bannform, die diese, in sich ruhend, im inaktiven Zustand beließ. Nachdem sie den inneren Bereich freigelegt hatte, den nur sie zu sehen vermochte, bediente sie sich bewusst beider Seiten ihrer Kraft, um die opponierenden Knotenpunkte miteinander zu verbinden.
Im Nu begannen die grünen Linien sich erneut wie eine gierige Lichtranke in die Höhe zu schrauben. Kaum einen Herzschlag später hatte das Geflecht aus Linien bereits die Höhe ihrer Oberschenkel erreicht.
Cara stieß und stocherte nach der Bestie. Mehrmals landete sie einen wuchtigen Treffer mit ihrer unhandlichen Waffe und drängte die Kreatur einen Schritt nach hinten. Sobald diese einen Schritt zurückwich, stieß sie sofort aufs Neue zu und trieb sie so allmählich Schritt um Schritt zurück. Nicci hatte sich nicht getäuscht - die Kreatur reagierte mit größter Vorsicht auf die ihrem Wesen nach unerwartete Attacke.
Nicci hoffte nur, dass Cara es schaffte, die Bestie nicht nur weit genug, sondern auch rechtzeitig zurückzudrängen.
Grelle Blitze spannten sich in weitem Bogen über den nächtlichen Himmel und ließen die aus dickglasigen Fenstern bestehende Wand aufleuchten. Verglichen mit den Kräften des Unwetters, waren die schwachen Öllampen so gut wie nutzlos. Die schnellen Wechsel zwischen gleißend hellem Licht und Dunkelheit machten es fast unmöglich, etwas zu erkennen.
Während sich die grünlich leuchtenden Linien - Ebenbild der inneren Gestalt eines vor Tausenden von Jahren von Männern erschaffenen Banns, deren Spur sich längst in der Geschichte verloren hatte - rings um sie her in die Höhe rankten, entzündete sich nämlich die innere Bannform ein weiteres Mal und fraß sich noch geschwinder als zuvor durch ihr Inneres. Nicci, die noch nicht völlig bereit war, erblindete eher als erwartet. Solange sie dazu noch fähig war und über einen Rest von Kontrolle verfügte, bemühte sie sich, normal zu atmen.
Das Sehvermögen ihrer Gabe begann, zwischen den beiden Welten, zwischen dem Licht des Lebens und der ewigen Finsternis, hin und her zu flackern. Immer wieder, wenn auch begleitet von blendender Finsternis anstelle von gleißend hellem Licht, flackerte ganz ähnlich den Blitzen draußen vor dem Fenster in kurzen Schüben das dunkle Nichts des Jenseits auf. Nicci, gefangen zwischen zwei Welten, fühlte sich, als würde ihre Seele in Stücke gerissen.
Sie ignorierte die Schmerzen und konzentrierte sich auf die anstehende Aufgabe.
Mit ihrer Kraft allein war eine solche Bestie nicht zu bezwingen. Immerhin war sie von den Schwestern der Finsternis mithilfe uralter Kräfte erschaffen worden, die sie nicht einmal ansatzweise zu ergründen vermochte. Dieses mit den Mitteln der Zauberei erschaffene Wesen war allem gewachsen, was Nicci auf den Plan zu rufen wusste. Es erforderte ein wenig mehr als bloße Hexerei. Unterdessen hatte sich die Bestie in der Nähe der Fenster festgesetzt, war ihr kurzer Rückzug endlich zum Erliegen gekommen. Obwohl Cara noch immer nach ihr stieß, weigerte sie sich, weiter zurückzuweichen. Zudem hatte Cara zunehmend Schwierigkeiten mit dem überaus schweren Kerzenständer. Als Richard Anstalten machte, ihr zu Hilfe zu eilen, schrie sie die anderen an, nur ja zurückzubleiben. Da er nicht gleich gehorchte, schwang sie den Kerzenständer herum, zwang ihn zurückzuspringen und ließ keinen Zweifel daran, wie absolut ernst sie es meinte.
Nicci legte ihre ganze Kraft in den Versuch, hob ihre Handflächen an und bereitete sich darauf vor, das Unmögliche zu vollbringen. Sie musste den Scheitelpunkt finden zwischen dem Nichts und dem Auslösen der Kraft.