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Während sie wartete, wanderten ihre Gedanken zu der Statue, die sie geopfert hatte, der kleinen Statuette, die sie in Lord Richard Rahls Palast hatte zurücklassen müssen. Obwohl sie keinerlei Erinnerung an ihre eigene Vergangenheit besaß, hatte sie sich diese Figur einer Frau mit langem, fließendem Haar und Gewand Zug für Zug eingeprägt. Ihre Seele, ihre ganze Körperhaltung mit ihrem durchgedrückten Rücken, den zu Fäusten geballten Händen und dem in den Nacken geworfenen Kopf, wie zum Trotz gegen irgendwelche unsichtbare Kräfte, die sie zu unterjochen suchten, war von stiller Erhabenheit.

Kahlan wusste nur zu gut, was für ein Gefühl es war, wenn unsichtbare Kräfte einen unterjochten.

Von der Stille der Hügelkuppe aus beobachteten sie, wie Schwester Armina sich einen Weg durch das offene Gelände unten bahnte. Sonst war niemand zu sehen. Das hohe, sachte in der Brise schwankende, sich wiegende Gras schien beinahe flüssig. Schließlich kam Schwester Armina auf ihrer kastanienbraunen Stute den Hang heraufgetrottet. Sie lenkte ihr Pferd herum und kam neben den anderen zum Stehen.

»Da sind sie nicht«, verkündete sie.

»Wie groß mag wohl ihr Vorsprung sein?«, fragte Schwester Ulicia. Schwester Armina hob einen Arm und zeigte. »Ich bin nicht viel weiter geritten als bis hinter diese Hügel dort. Ich wollte nicht riskieren, von einem der mit der Gabe Gesegneten bei Jagang erspäht zu werden. Aber nach meiner Einschätzung dürften die Nachzügler und Schlachtengänger höchstens vor ein bis zwei Tagen weitergezogen sein.«

Als die aus ihrem Rücken kommende Brise abflaute, hatte dies zur Folge, dass der Gestank erneut den Hügel heraufkroch. Kahlan rümpfte die Nase. Schwester Ulicia bemerkte es, enthielt sich aber eines Kommentars. Den Schwestern schien der Gestank überhaupt nichts auszumachen.

Abrupt wandte Schwester Ulicia sich ab und schob einen Stiefel in den Steigbügel. »Reiten wir los und werfen einen Blick hinter die Hügel jenseits der Stelle«, verkündete sie, während sie sich in ihren Sattel schwang.

Kahlan saß auf und folgte den drei anderen Frauen, als diese ihre Pferde den Hang hinabtraben ließen. Sie fand es seltsam, wie ungewöhnlich nervös die Frauen schienen. Normalerweise neigten sie bei allem, was sie taten, zu an Arroganz grenzender Unerschrockenheit, auf einmal aber benahmen sie sich überaus vorsichtig.

Links von ihnen ragten die zerklüfteten, bläulich grauen Umrisse eines hohen Gebirges auf. Dessen Felsenhänge und Wände waren so eindrucksvoll steil, dass es nur ganz wenige Stellen gab, an denen Bäume Halt gefunden hatten. Einige der Gipfel ragten so hoch auf, dass ihre Spitzen trotz des Sommers mit einer Schneeschicht bedeckt waren. Nach ihrem Aufbruch vom Palast des Volkes hatten sie einen Pass gefunden, durch den sie es hatten überqueren können, und seitdem waren Kahlan und die Schwestern dem Gebirge Richtung Süden gefolgt. Auf der gesamten Reise hatten die Schwestern es, wann immer möglich, vermieden, in die Nähe von Menschen zu geraten.

»Beeilen wir uns«, entschied Schwester Ulicia. »Wir werden der Hauptstraße, drüben auf der anderen Seite, ein Stück weit folgen, bis wir ihnen nahe genug sind, um uns ihres derzeitigen Standorts und der von ihnen eingeschlagenen Richtung ganz sicher sein zu können.«

Sie trieben ihre Pferde zu einem leichten Galopp an und ritten schweigend die Hügel hinab, verließen diese und gelangten schließlich in die Außenbezirke der Stadt. Diese war ganz offensichtlich um die mäandernde Biegung eines Flusses und den Knotenpunkt mehrerer größerer Straßen herum errichtet worden, die vermutlich Handelsrouten waren. Die größere der beiden Balkenbrücken hatte man niedergebrannt. Als sie im Gänsemarsch die schmale zweite Brücke überquerten, fiel Kahlans Blick hinunter in die Fluten. Aufgedunsene, mit dem Gesicht nach unten treibende Körper hatten sich im Uferschilf verfangen. Noch bevor sie sie überhaupt gesehen hatte, war die Luft bereits von einem derart durchdringenden Todesgestank erfüllt gewesen, dass ihr jegliches Interesse an einem kurzen Bad vergangen war. Sie wollte nichts als fort von diesem Ort.

Als sie die ersten Gebäude passiert hatten, hielt Kahlan sich einen Schal vor Nase und Mund. Sie glaubte, sich wegen des fauligen Gestanks verwesenden Fleisches übergeben zu müssen. Es schien merkwürdig, dass er so durchdringend war.

Kurz darauf fand sie den Grund dafür heraus.

Sie passierten Nebenstraßen, in denen sich die Körper zu Hunderten stapelten. Dazwischen lagen ein paar tote Hunde sowie einige Maultiere, deren Beine gerade und steif emporragten. Die Art, wie die Leichen zusammengepfercht in den engen Gassen lagen, schien Kahlan ein Anzeichen dafür zu sein, dass man die Menschen, um ein Entrinnen unmöglich zu machen, auf engstem Raum zusammengetrieben und anschließend abgeschlachtet hatte. Die meisten toten Körper, von Mensch als auch Tier, waren von grässlichen, klaffenden Wunden entstellt. Aus einigen der Toten ragten noch abgebrochene Lanzen heraus, während andere offenbar mit Pfeilen getötet worden waren. Die meisten schienen jedoch einfach totgehackt worden zu sein. Und noch etwas fiel ihr an ihnen auf: Es waren ausnahmslos ältere Menschen.

Die Gebäude in diesem Teil der Stadt waren größtenteils niedergebrannt worden, nur an wenigen Stellen stieg noch sich kräuselnder Rauch über einigen der größeren Trümmerhaufen auf. Das schwarz verkohlte Gebälk erinnerte an die versengten Skelette irgendwelcher Ungeheuer. Die Brände schienen vor ein oder zwei Tagen erloschen zu sein.

Im Schritttempo lenkten sie ihre Pferde eine schmale gepflasterte Straße zwischen zweistöckigen, düster zu beiden Seiten aufragenden Gebäuden entlang und sahen sich in stummer Würdigung der Zerstörung um. Was von den Gebäuden noch stand, war geplündert worden. Türen waren entweder eingedrückt worden oder lagen nahebei auf der Straße. Kahlan sah nicht ein einziges unzerbrochenes Fenster. Über ein paar der winzigen, zur Straße hinausgehenden Baikonen hingen Vorhänge drapiert. Neben den hölzernen Trümmerteilen der Türrahmen und den Glassplittern waren die Straßen mit ganz alltäglichen Gegenständen übersät: beliebige Kleidungsstücke, dort ein blutverschmierter Stiefel, da Trümmer zerbrochenen Mobiliars, abgebrochene Waffen, zersplitterte Wagenteile. Kahlan sah eine Puppe mit gelbem Garn als Haar platt gedrückt mit dem Gesicht nach unten liegen, auf dem Rücken einen Hufabdruck. Sämtliche Gegenstände vermittelten den Anschein, als seien sie von vielen Händen aufgelesen, für wertlos befunden und anschließend wieder fortgeworfen worden.

Doch erst ein tapferer Blick in die Gebäude, die sie passierten, offenbarte Kahlan das eigentliche Grauen, und das bestand nicht bloß in den Leichen der ermordeten Stadtbewohner. Es gab Leichen von Menschen, die offenbar einfach so, nur zum Spaß oder aus purer Brutalität, hingemetzelt worden waren. Anders als die Leichen, die sich in den Seitenstraßen stapelten, waren dies keine älteren Menschen. Dem Aussehen nach könnten es Leute gewesen sein, die versucht hatten, ihre Geschäfte oder Heime zu schützen. Durch ein zersplittertes Schaufenster sah sie einen Mann, bekleidet mit jener Art Schürze, wie Flickschuster sie trugen, den man an seinen Handgelenken an die Wand genagelt hatte. Mitten aus seiner Brust ragten Dutzende Pfeile, was ihm das Aussehen eines grotesken Nadelkissens verlieh. Mund und beide Augen waren von jeweils einem Pfeil durchbohrt. Der Mann war nicht nur zum Scheibenschießen missbraucht, sondern Opfer eines abartigen Humors geworden. In anderen dunklen Gebäuden sah Kahlan Frauen, die nur zu offenkundig vergewaltigt worden waren. Ein einzelner, noch über den Arm gestülpter Ärmel, das war alles, was einer am Boden liegenden Frau geblieben war, um ihre Blöße zu bedecken. Ihre Brüste waren verstümmelt. An einer anderen Stelle lag ein erkennbar noch nicht zur erwachsenen Frau herangereiftes Mädchen, alle viere von sich gestreckt, auf einem Tisch, das Kleid bis zur Hüfte hochgeschoben. Die Kehle war ihr bis zur Wirbelsäule durchtrennt worden, ihre Beine waren gespreizt, und als letzten Akt der Erniedrigung hatte man einen Besenstiel in ihr stecken lassen. Ein Gefühl der Abgestumpftheit bemächtigte sich Kahlans, als sich ihr ein grausiger Anblick nach dem anderen bot, ein jeder von solch gespenstischer Barbarei, dass sie sich einfach nicht vorstellen konnte, was für ein Schlag Männer zu solchen Gräueltaten fähig war. Kahlan war noch nie so froh gewesen, einen Ort hinter sich zu lassen, wie jetzt, da sie sich endlich aus der Stadt hinausbegaben und eine nach Südosten führende Straße nahmen. Die Straße erwies sich jedoch nicht als die erhoffte Möglichkeit, den Gräueln der Stadt zu entrinnen. Entlang der Strecke waren die Gräben immer wieder mit den Leichen unbewaffneter junger Männer oder älterer Jugendlicher gefüllt, die vermutlich hingerichtet worden waren - sei es als Denkzettel für andere oder einfach nur aus Lust am Töten, wegen eines Fluchtversuchs oder weil sie gegen den Gedanken der Sklaverei aufbegehrt hatten.