Die Teppiche dämpften das Geräusch seiner Stiefel, als er an offen stehenden, in dunkle Räume führende Flügeltüren zu beiden Seiten vorbeimarschierte. Dank ihrer langen Beine hatte Cara keine Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Richard wusste, ein Teil dieser Räume enthielt Bibliotheken, andere dagegen waren verschwenderisch gestaltete Vorzimmer, deren einziger Zweck darin zu bestehen schien, in andere Räume zu führen, durch die man in wieder andere, manchmal schmucklose, dann wieder reich verzierte Gemächer gelangte, allesamt Teile des undurchschaubaren und verworrenen Labyrinths, welches die Burg der Zauberer darstellte. An einer Kreuzung bog Richard rechts ab in einen Flur, dessen Wände dick in spiralförmigen Mustern verputzt waren, über die Jahrhunderte zu einem warmen goldenen Braunton nachgedunkelt. Zu guter Letzt gelangten sie an eine Treppe. Eine Hand um den Endpfosten aus poliertem weißem Marmor gelegt, begann Richard die Stufen hinabzusteigen. Ein flüchtiger Blick nach oben zeigte, dass sie, um einen quadratischen Treppenschacht angeordnet, sich im Dunkel der höher gelegenen Gefilde der Burg verlor.
»Wohin gehen wir eigentlich?«, wollte Cara wissen.
Die Frage versetzte Richard in mildes Erstaunen. »Das weiß ich nicht.«
Cara schickte einen missmutigen Blick in seine Richtung. »Ihr dachtet einfach, durchsuchen wir mal eben ein Gebäude mit Tausenden und Abertausenden von Räumen, ein Gebäude, groß wie ein Berg und teilweise hineingebaut in diesen, bis Ihr durch irgendeinen Zufall auf irgendetwas stoßt?«
»Mit der Luft hier stimmt wie gesagt etwas nicht, und diesem Gefühl gehe ich eben nach.«
»Ihr verfolgt also Luft«, sagte Cara mit spöttisch-ausdruckslosem Ton. Sofort flammte ihr Argwohn wieder auf. »Ihr habt doch nicht etwa die Absicht, Magie anzuwenden, oder?«
»Cara, Ihr wisst so gut wie jeder andere, dass ich nicht weiß, wie ich meine Gabe nutzen kann. Ich könnte nicht einmal dann Magie heraufbeschwören, wenn ich es wollte.«
Und er wollte es ganz bestimmt nicht.
Würde er sich seiner Gabe bedienen, wäre es für die Bestie einfacher, ihn zu finden, weshalb die stets auf seine Sicherheit bedachte Cara sich sorgte, er könnte aus Unbedachtheit etwas tun, das die auf Geheiß Kaiser Jagangs erschaffene Bestie auf den Plan rief.
Richard richtete sein Augenmerk wieder auf das anstehende Problem und versuchte festzustellen, was genau ihm an der Luft so merkwürdig erschien. Er bemühte sich, exakt zu analysieren, was er spürte, und gelangte zu dem Schluss, dass sie ein wenig an die Luft während eines Gewitters erinnerte. Sie besaß die gleiche, unverwechselbare Schärfe.
Nachdem sie mehrere Fluchten der weißen Marmortreppe hinabgestiegen waren, gelangten sie in einen schlichten, aus Steinquadern bestehenden Gang. Diesem folgten sie geradeaus über mehrere Kreuzungen hinweg und blieben schließlich stehen, als Richard eine dunkle Wendeltreppe aus Steinstufen mit einem Eisengeländer an der Seite hinabstarrte. Als er diese hinabzusteigen begann, folgte Cara ihm. Unten angelangt, passierten sie einen kurzen Durchgang mit einer fassartigen Gewölbedecke aus Eichenbohlen, ehe sie schließlich einen Raum betraten, der den Ausgangspunkt einer Reihe nabenförmig davon abgehender Flure bildete. Der kreisrunde Raum war an der Außenseite von Pfeilern aus grauem gesprenkeltem Granit gesäumt, die vergoldete, jeden der in die Dunkelheit hineinführenden Gänge überspannende Querbalken stützten.
Richard streckte die Laterne vor und versuchte mit zusammengekniffenen Augen in die dunklen Gänge hineinzuspähen. Obwohl ihm der kreisrunde Raum unbekannt war, begriff er, dass sie sich in einem Teil der Burg befanden, der irgendwie anders war - auf eine "Weise anders, die ihm Caras Bemerkung verständlich machte, der Ort bereite ihr eine Gänsehaut. Im Gegensatz zu den anderen führte einer der Gänge in steilem Winkel eine lange Rampe hinab, offenbar in tiefer gelegene Bereiche der Burg. Er fragte sich, warum sich ausgerechnet hier anstelle einer weiteren endlosen Treppenflucht eine Rampe befand.
»Hier entlang«, forderte er Cara auf und führte sie die Rampe hinab in die Dunkelheit.
Die Rampe schien endlos in die Tiefe zu führen, bis sie schließlich dann doch in einen gewaltigen Gang mündete, der, obwohl nicht mehr als zwölf Fuß breit, mindestens deren siebzig in der Höhe maß. Richard kam sich vor wie eine Ameise auf dem Grund eines langen schmalen, bis tief in den Erdboden reichenden Spalts. Linker Hand ragte eine natürliche, geradewegs aus dem Berg selbst gehauene Felswand auf, während die Wand zur Rechten aus gewaltigen Steinquadern zusammengesetzt war. Sie passierten eine Abfolge von Räumen in der aus Steinquadern bestehenden Wand und arbeiteten sich immer weiter in dem Gang voran, der eine Art endloser, mitten durch das Muttergestein führender Riss zu sein schien. Obwohl sie sich beharrlich weiter vorantasteten, war das Licht der Laterne nicht hell genug, als dass man ein Ende hätte erkennen können. Auf einmal dämmerte Richard, was er gespürt hatte. Die Luft fühlte sich an wie bisweilen in der unmittelbaren Umgebung von Personen, deren Gabe sehr stark ausgeprägt war. Er fühlte sich daran erinnert, wie die Luft in der unmittelbaren Umgebung seiner einstigen Lehrerinnen, Schwester Cecilia, Armina, Merissa und vor allem Nicci zu knistern schien. Manchmal war es ihm so vorgekommen, als könnte die Luft rings um sie her in Flammen aufgehen, so ungeheuerlich war die einzigartige Energie, die diese Frau verströmte. Allerdings hatte sich dieses Gefühl stets nur in unmittelbarer Nähe der betreffenden Person eingestellt und war nie ein allgemeines Phänomen gewesen.
Noch bevor er den Lichtschein sah, der aus einem der Räume in der Ferne drang, konnte er die Luft spüren, die ihm von dort entgegenschlug. Fast erwartete er, die Luft im gesamten Korridor werde zu flimmern beginnen.
Eine offen stehende gewaltige, Messingbeschlagene Flügeltür führte in einen Raum, der eine spärlich beleuchtete Bibliothek zu sein schien. Sofort war ihm klar, dass dies der Ort war, den er suchte. Richard trat durch die mit kunstvoll ziselierten Symbolen bedeckten Türflügel und erstarrte mitten in der Bewegung, einen Ausdruck des Staunens im Gesicht.
Durch ein Dutzend Rundbogenfenster rings um den höhlenartigen Raum drang ein flackerndes Zucken wie von Blitzen und beleuchtete Reihen und Aberreihen von Regalen. Die über zwei Stockwerke reichenden Fenster erstreckten sich über die gesamte Breite der rückwärtigen Wand. Dazwischen erhoben sich zwei Stockwerke hohe Säulen aus poliertem Mahagoni, an denen man schwere grüne Samtvorhänge befestigt hatte, deren Säume mit goldenen Fransen verziert waren. Die kleinen Glasquadrate, aus denen sich die Schwindel erregend hohen Fenster zusammensetzten, waren nicht durchsichtig, sondern von beachtlicher Stärke, und wiesen zahlreiche ringförmige Verunreinigungen auf, so als sei das Glas beim Gießen überaus dickflüssig gewesen. Wann immer das Blitzen aufflammte, schien auch das Glas aufzuleuchten. Rings um den Raum verteilte Reflektorlampen verliehen dem Ort einen weichen, warmen Glanz, der sich da und dort inmitten des wirren Durcheinanders von allenthalben aufgeschlagen herumliegenden Büchern in den polierten Tischplatten widerspiegelte.
Die Regale waren nicht das, was Richard zunächst vermutet hatte. Eine Reihe von ihnen diente tatsächlich der Unterbringung von Büchern, andere dagegen enthielten ein planloses Durcheinander unterschiedlichster Utensilien - von säuberlich gefaltetem glitzerndem Tuch über Eisenspiralen, grünen Glasflakons bis hin zu kompliziert aussehenden Konstruktionen aus Holzstäben sowie Stapeln von Pergamentrollen, alten Knochen und langen, gekrümmten Reißzähnen, die Richard weder erkannte, noch über die er auch nur vage Vermutungen hätte anstellen können. Als das Blitzen erneut aufloderte, erweckten die über alles im Raum, über Tische, Stühle, Säulen, Bücherregale und Lesetische zuckenden Schatten der Fensterpfosten den Anschein, als zerspringe der gesamte Raum in seine Bestandteile.