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„Was meinst du damit?“

„Wir sind ruhige Leute, Knabe. Wir leben, wie man uns zu leben befohlen hat. Wir gehorchen den Gesetzen des Volkes. Du aber, du achtest auf nichts und keinen, nicht wahr? Du fragst Fragen, und wenn man dir bedeutet, den Schnabel zu halten, dann fragst du weiter, warum du ihn halten sollst. Aah, es gab vieles, was auch ich gern gewußt hätte, als ich ein Knabe war, und es kam auch die Zeit, da ich es erfuhr. Aber niemand ertappte mich jemals dabei, daß ich naseweis und neugierig spähte und schnüffelte, wo ich nichts zu suchen hatte. Ich habe gewartet, bis es an der rechten Zeit war, daß man mich lehrte. Das soll aber nicht heißen, daß ich nicht auch Wißbegier in mir verspürt hätte. Aber nicht so wie du. Bei dir ist die Neugier eine Krankheit. Diese deine Neugier hat dich neulich fast das Leben gekostet, bis du dir dessen bewußt?“

„Meinst du wirklich, daß Koshmar mich diesesmal wirklich rausgeschickt hätte, Thaggoran?“

„Ja. Ich glaube, das hätte sie.“

„Und dann wäre ich — gestorben?“

„Mit ziemlicher Sicherheit, ja.“

„Aber jetzt gehen wir doch alle hinaus. Werden wir also alle dort sterben?“

„Ein kleiner Junge wie du, du hättest dort allein keinen halben Tag überleben können. Aber der ganze Stamm — o doch, wir werden es durchstehen. Wir haben Koshmar, die uns führen wird, und wir haben Torlyri, die uns trösten wird, und Harruel, der uns beschützen wird.“

„Und wir haben dich, der uns den Willen der Götter weisen wird.“

„Noch eine kleine Weile länger wird dies so sein, ja“, sagte Thaggoran.

„Ich verstehe dich nicht.“

„Ja meinst du denn, ich würde ewig leben können, Kind?“

Er hörte Hresh scharf den Atem einziehen. „Aber du bist doch jetzt schon so alt!“

„Genau darum geht es. Ich bin dem Ende nahe. Begreifst du das nicht?“

„Nein!“ Hresh zitterte. „Wie kann das sein? Wir brauchen dich, Thaggoran. Brauchen dich. Du mußt einfach leben! Denn wenn du stirbst.“

„Alles und jeder stirbt, Hresh.“

„Koshmar wird sterben? Und — meine Mutter — sie wird sterben? Werde auch ich.?“

„Alle sterben.“

„Ich will aber nicht, daß Koshmar stirbt — oder du — oder Mutter Minbain. Oder irgendwer. Und besonders nicht ich!“

„Aber du weißt doch Bescheid über die Altersgrenze, nicht wahr?“

Hresh nickte feierlich mit dem Kopf. „Das ist, wenn du fünfunddreißig Jahre alt wirst, und dann mußt du hinaus! Ich hab die Knochen gesehen, als ich — draußen war, vor der Schleuse. Da war alles voller Knochen, überall verstreut. Und die sind alle gestorben, jeder, der dort rausgegangen ist. Aber das war doch im Langen Winter! Und der Lange Winter ist jetzt zu Ende.“

„Vielleicht. Vielleicht ist es so.“

„Ja, bist du denn nicht sicher, Thaggoran?“

„Ich hatte gehofft, daß die Schimmersteine es mir sagen würden.“

„Aber — dann hab ich dich ja wirklich gestört. Ich geh jetzt wohl besser.“

Lächelnd sagte Thaggoran: „Bleib hier! Bleib eine kleine Weile. Noch bleibt mir ja die Zeit, die Schimmersteine um Rat und Antwort zu bitten.“

„Und wenn wir dann aus dem Kokon herausgehen, gibt es dann auch noch die Altersgrenze?“

Die scharfsinnige Frage des Kindes bestürzte den Chronisten. Nach einer Weile sagte er: „Ich weiß es nicht. Vielleicht nicht mehr. Das wäre dann ja ein — obsoleter Brauch, nicht wahr? Wir wären dann ja nicht länger an diesem kleinen Ort hier zusammengezwängt.“

„Aber dann werden wir nicht sterben müssen! Niemals!“

„Alles muß sterben, Hresh.“

„Aber warum denn?“

„Der Leib braucht sich auf. Seine Kraft versiegt. Du siehst doch, wie mein Fell weiß geworden ist? Wenn die Farbe verschwindet, dann heißt das, daß auch das Leben davongeht. Auch in mir drinnen verändert sich alles. Das ist in der Natur der Dinge, Hresh. Und alle Lebewesen machen diese Erfahrung durch. Dawinno hat uns den Tod bestimmt, auf daß wir am Ende unserer Mühen und Plagen Frieden — den Frieden fänden. Davor muß man sich doch nicht fürchten!“

Hresh verdaute das eine Weile lang stumm.

Dann aber sagte er: „Ich mag aber immer noch nicht gern sterben.“

„In deinem Alter ist diese Vorstellung auch unerhört. Später wirst du Verständnis dafür aufbringen. Aber — versuche nicht jetzt schon, so etwas zu verstehen.“

Wieder trat ein längeres Schweigen ein. Thaggoran sah, daß der Knabe auf das Kästchen starrte, das die Stammeschroniken enthielt; mehr als nur einmal hatte er dem Kind erlaubt, einen Blick da hineinzuwerfen, ja sogar die Aufzeichnungen zu berühren (was jeglichem Anstand und Brauch zuwiderlief). Der Knabe war so des Eifers voll; der Knabe war so schmeichlerisch-überzeugend. und es war ja doch wirklich weiter kein Schaden damit verbunden, wenn das Kind diese alten Bücher — betrachtete. Und mehr als nur einmal hatte Thaggoran sich bei dem Wunsche ertappt, Hresh möge doch früher geboren worden, älter sein, oder daß er selbst in einem späteren Lebensabschnitt in sein Chronistenamt berufen worden wäre; denn hier, in diesem Kind, hatte er den geborenen Historiographien und Chronisten vor sich, ganz ohne Zweifel. ein Kopf, wie er in jeder Generation bestenfalls einmal geboren wurde. Aber leider, leider, der Knabe war ja noch ein Kind, und Jahre trennten ihn von einer möglichen Nachfolge. Ich werde lang dahin sein, dachte Thaggoran, ehe dieses Kind ein Mann wird. Und doch. und trotzdem.

„Du solltest jetzt aber machen, was du mit den Schimmersteinen machen mußt“, sagte Hresh schließlich.

„Ja. Das — sollte ich wohl.“

„Darf ich bleiben und dir zuschauen?“

„Ein andermal, vielleicht“, sagte Thaggoran lächelnd und fuhr dem Jungen über den schlanken Arm, versetzte ihm einen fast unmerklichen Schubs und sandte ihn so aus der Kammer. Dann wandte er sich wieder aufmerksam den Schimmersteinen zu. Und wieder berührte er Vineir und dann Daralmir. Doch etwas war falsch. Fühlte sich nicht richtig an. Es war eine Disharmonie in der Einstimmung; das Leuchten und Flimmern, das sich für ein anständiges Orakel gehörte, blieb aus. Er blickte sich um — und da sah er Hresh, der um den Pfosten der Kammertür herumschielte. Thaggoran hustete — so gut es eben ging — das Lachen weg und sagte — so streng, wie er es eben zustandebrachte: „Verschwinde, Hresh! Zieh ab!“

Im Schein einer spuckenden rußenden Talglampe erblickte Salaman vor sich die gewundenen, sich verzweigenden dunklen Höhlengänge. Ehrfürchtige Scheu durchlief ihn, als gleite eine Bergschlange in seinem Rückenmark nach oben. Er war zehn Jahre alt, fast schon elf, kurz vor der ersten Schwelle der Mannheit. Nie zuvor war er hier unten gewesen; eigentlich hatte er nie so recht an die Existenz dieser Höhlen geglaubt.

„Hast du Schiß?“ fragte Thhrouk, der hinter ihm kam.

„Ich? Nein. Warum sollte ich?“

„Also, ich hab Schiß“, sagte Thhrouk.

Salaman fuhr herum. Mit einem derart offenen Eingeständnis hatte er nicht gerechnet. Von Kriegern erwartete man, daß sie keinerlei Furcht zu erkennen gäben. Und Thhrouk gehörte wie Salaman zur Kriegerklasse und war ein Jahr, vielleicht sogar mehr, älter, fast schon reif für das Tvinnr-Alter. Jetzt jedoch war sein Gesicht vor Furcht ganz verzerrt und starr. Im trüben Schein der Lampe sah Salaman seine Augen, sie tränten und waren vom Rauch gerötet. Sie glitzerten so hell wie Schimmersteine in dem Kopf, gläsern, ohne zu blinzeln. An den Kinnbacken zuckten die Muskeln, und jene am Hals waren verkrampft und verrieten durch ihre Schwellung die Unsicherheit des Jungen.

„Vor was sollte man hier Schiß haben?“ sagte Salaman kühn. „Anijang bringt uns hier schon wieder raus!“

„Anijang!“ sagte Thhrouk. „Ein hirnloser alter Arbeiter!“