„Ja?“ Es kam zögernd.
„Bitte sie, aber nicht heute, verstehst du? Nicht, solange die Vorstellung davon noch so in deinem Hirn brodelt. Laß dir Zeit und denk zunächst einmal darüber nach. Nimm dir Zeit und denke!“
Hresh lächelte. „Mach ich“, sagte er. „Du bist sehr klug, Koshmar. Du durchschaust das alles so viel besser als ich.“ Und er ergriff ihre beiden Hände und drückte sie. Dann schoß er wie ein Pfeil über den Platz davon.
Koshmar blickte ihm nach. Er ist so gescheit, dachte sie. Und doch noch dermaßen jung, fast noch ein Knabe, und dabei so ernst — und so töricht. Aber alles wird sich für ihn zum Guten wenden.
Es ist so leicht, dachte sie, anderen in derlei Dingen zu helfen.
Dann sah sie Torlyri nahe der Tempelecke stehen. Ein Behelmter war von irgendwo aufgetaucht und mühte sich ab, ihr etwas zu sagen, und die beiden führten eine lebhafte Pantomime auf, unter großem Gelächter, doch wie es schien, mit geringem Nutzen für das gegenseitige Verständnis. Aber Torlyri schien jedenfalls Spaß daran zu haben. Sie stieg allmählich aus der tiefen Niedergeschlagenheit wieder herauf, in die sie nach Lakkamais Fortgang versunken war. Ihre Pflichten als Opferfrau des Stammes sind gewiß eine starke Tröstung für sie, dachte Koshmar, nicht nur die Erledigung der Rituale, sondern die Tröstung, die sie anderen spendet, wenn sie die ängstliche Verwirrtheit zu lindern versucht, welche von der Spaltung und der Ankunft der Behelmten bewirkt wurde.
„So schau sie dir doch nur an!“ sagte Koshmar zu Boldirinthe, die gerade vorbeikam, und zeigte auf Torlyri und den Helmträger. „Seit Monaten hab ich sie nicht mehr so fröhlich gesehen.“
„Kann sie denn schon ihre Sprache sprechen?“ fragte Boldirinthe.
Koshmar lachte glucksend. „Ich glaube keiner von den beiden hat die geringste Ahnung, was der andere ihm zu sagen versucht. Doch das spielt keine Rolle. Sie hat Spaß dran, oder nicht? Mich freut das. Ich bin immer froh, wenn Torlyri froh und glücklich ist.“
„Anderen zu helfen, das hebt einen über das eigene Selbst hinweg“, sagte Boldirinthe. „Es lenkt den Kopf vom eigenen Kummer ab.“
„Ja, so ist es“, antwortete Koshmar.
Der Behelmte war einer, der ihr vorher nie aufgefallen war, ein hagerer, aber kräftiger Mann, der jenem ersten, dem Kundschafter vor langer Zeit, sehr ähnlich sah. Vielleicht war er dessen Bruder. An seiner rechten Schulter war eine ausgedehnte nackte kahle Stelle, die sich bis zu seinem Hals erstreckte, als wäre ihm dort in viel jüngeren Jahren eine schreckliche Wunde geschlagen worden. Sein Helm war weit weniger scheußlich als die der meisten anderen, keine Hörner, keine vorstoßenden Klingen, keine glosenden Monster, nur eine schlichte hochgewölbte Schüssel aus vergoldetem Metall, bedeckt von dünnen roten Plättchen in Gestalt runder Laubblätter.
Koshmar beobachtete die beiden eine kleine Weile. Dann wandte sie sich ab.
Harruels Stimme erklang in ihrem Innern, wie so oft, wenn sie ihn am wenigsten zu hören wünschte. Die Weiberherrschaft ist vorbei. Vom heutigen Tage an bin ich König. Wer will mit mir ziehen... ein großes Königreich gründen... fern von hier? Wer wird mit Harruel ziehen? Wer? Wer?
Ich glaube, ich begebe mich jetzt in meine Kapelle, dachte Koshmar. Ich glaube, ich werde die Flamme entfachen und die Duftkräuterschwaden atmen, ich will nun mit Thekmur oder Nialli Zwiesprache halten.
Es war der Barak Dayir, der den Pfad der Verständigung zwischen Hresh und Noum om Beng aufgetan hatte.
Es war offenkundig, daß er vom ersten Augenschein an gewußt hatte, worum es sich dabei handelte. Diese lodernde Erregung, die erste und einzige Erregtheit, die Hresh jemals an Noum om Beng erkannt hatte, bewies dies zur Genüge. Der behelmte Uralte sah in dem Wunderstein ein Geschenk der Götter — ja er war für ihn gewissermaßen etwas an sich schon Göttliches. Er blieb lange Zeit auf den Knien davor liegen, ehe er sich schließlich mit einem langen forschenden Blick zu Hresh wandte, als wolle er wortlos fragen: Weißt du, wie man dies benutzt?
Als Antwort vollführte Hresh eine Pantomime: Wie er mit dem Sensororgan den Wunderstein umfaßte. Er imitierte gestenreich einen plötzlichen Energieausbruch in der Luft, eine gesteigerte Wahrnehmung um seinen Kopf. Noum om Beng bedeutete ihm, er solle genau dies bitte jetzt tun; und Hresh umschloß nach kurzem Zögern den Barak Dayir mit der geringelten Spitze seines Sensororgans und fühlte sogleich, wie die Kraft der Erleuchtung sich seiner Seele bemächtigte und sie weitete.
Kurz darauf legte Noum om Beng sein Sensororgan neben das Hreshs — ohne es direkt zu berühren, doch so dicht, daß dazwischen kaum ein Lichtschimmer sichtbar war —, und dann fand zwischen ihnen eine Bewußtseinsverbindung statt.
Es war nicht wie die Verbindung, die sich beim Zweiten Gesicht ergibt, und auch nicht die des Tvinnr, es war mit überhaupt nichts vergleichbar, was Hresh bei seinen früheren Experimenten mit dem Wunderstein erlebt hatte. Noum om Bengs Bewußtsein lag nicht offen vor ihm da. Doch gelang ihm ein Einblick, etwa so, wie man von außerhalb in eine Schatzkammer schaut. Für Hreshs Verständnis war das, was er sah, eine Reihe von inneren Behältnissen, wie versiegelte kleinere Parzellen, die mit peinlicher Genauigkeit dortselbst aufgebaut waren. Er wußte, daß dies nicht wirkliche Abteilungen waren, sondern bloße Gedankenleer, geistige Gegenstücke.
Aus der Öffnung von Noum om Bengs Bewußtsein blies ihm ein fader Eiseshauch entgegen. Dort war auch ein eisiger Ort, so kalt wie die dunklen uralten Höhlen unter dem einstigen Kokon des Stammes es gewesen waren, durch die Hresh gelegentlich als Kind gewandert war.
„Dies ist für dich“, sagte Noum om Beng. Und er reichte Hresh ernst eines der kleinsten, säuberlich eingehüllten Päckchen aus einer der obersten Abteilungen, „öffne es“, sagte Noum om Beng. „Nur zu, öffne es! öffne es!“ Mit zitternden Fingern zupfte Hresh an der Verpackung. Schließlich gelang es ihm, das Päckchen zu öffnen. Und dort lag eine Dose, die aus einem einzelnen lichtdurchleuchteten grünen Edelstein geformt war. Noum om Beng machte eine heftige Handbewegung. Hresh hob den Deckel der Büchse.
Das Juwel, die Verpackung, die Schatzkammer und alles übrige verschwanden blitzartig. Hresh fand sich allein in der Finsternis hockend wieder und blinzelte mit den Lidern und war verwirrt. Sein Sensororgan umklammerte fest den Barak Dayir. Nach einigem wurde er Noum om Bengs gewahr, der still am anderen Ende des Gemaches saß und ihn beobachtete.
„Laß jetzt den Verstärker los“, sagte Noum om Beng. „Du wirst Schaden nehmen, wenn du ihn weiter so festhältst.“
„Den — Verstärker?“
„Was du den Barak Dayir nennst. Laß ihn los! Nimm schon deinen blöden Schwanz da weg, Junge!“
Noum om Bengs dünne, scharfe Pfeifstimme knatterte und knallte wie eine Peitschenschnur. Hresh gehorchte sofort, steifte sein Sensororgan und ließ den Wunderstein zu Boden gleiten.
„Heb ihn auf, Junge! Und stecke ihn wieder in den Beutel!“
Hresh begriff, daß Noum om Beng in der Sprache der Beng zu ihm gesprochen hatte, und daß er in der Lage war, das Gesagte zu verstehen, selbst nachdem er den Barak Dayir fortgelegt hatte.
Er verstand die Bedeutung der Wörter, und er begriff, wie jedes der von dem alten Mann geäußerten Wörter mit den anderen darum herum in Verbindung stand.
Auf irgendeine Weise hatte Noum om Beng die Sprache des Volkes der Behelmten mit einem Schlage in Hreshs Schädel übertragen. Mit zittrigen Fingern verstaute Hresh den Stein. Der alte Mann starrte ihn weiter unverwandt an. Die seltsamen roten Augen blickten kalt, gefühllos, streng. In dem ist kein Funken Liebe, dachte Hresh. Nicht zu mir und auch nicht für sonst jemanden. Nicht einmal für sich selber.
„Du nanntest es einen ‚Verstärker‘?“ sagte Hresh mit Bengworten, die ihm leicht über die Lippen gingen, sobald er sie heraufbefahl. „Ich habe das Wort noch nie zuvor gehört. Was bedeutet es? Und was ist es, unser Wunderstein? Woher kommt es? Und was ist sein Zweck?“