Kein sehr prächtiger König, nein, und kein sehr großes Reich. Und von wegen Stadt. Und dennoch, dachte Salaman, haben wir in so kurzer Zeit eigentlich doch schon ganz schön viel erreicht. Yissoucity war nun etwas mehr als zwei Jahre alt. Sie hatten das Unterholz größtenteils gerodet und Häuser, naja, Behausungen gebaut, und sie hatten Fleischtiere zusammengetrieben, die nunmehr auf einer weiten Koppel lebten, so daß man sie leicht fangen und schlachten konnte, wenn man Fleisch brauchte. Eine aus hohen Baumstämmen gefertigte Palisade war zu mehr als der Hälfte fertiggestellt und sollte um den gesamten Rand des alten Kraters verlaufen. Harruel sagte, sie diene zum Schutz gegen Feinde oder wilde Tiere, und vielleicht sah er ja auch wirklich nichts weiter dahinter. Gewiß würde sich der Zaun als nützlich erweisen, sollten jemals Feinde kommen. Doch Salaman erblickte darin auch eine Demonstration der Souveränität, eine Deklaration der Grenzen der königlichen Macht Harruels.
Und Salaman träumte von einem Tag, an dem unter seiner eigenen Oberherrschaft dieser Holzzaun durch eine Mauer aus Stein ersetzt werden würde. Aber dieser Tag lag noch in weiter Ferne, leider. Für derartige Großprojekte war der Stamm noch viel zu klein. Fünf Männer genügten nicht zum Bau gewaltiger Steinwälle. Außerdem war Harruel ja noch König. Und Harruel war seine Holzpalisade beeindruckend genug.
„Komm mit!“ winkte Salaman Weiawala zu. „Die Luft hier drin ist dumpf. Steigen wir auf den Berg.“
Hinter der Grasweide lag eine erhöhte Stelle, südlich von der Kraterwand, an welche Salaman sich oft begab, um nachzudenken. Von hier aus konnte er die ganze Stadt überblicken, und den Wald dahinter, durch den sie auf dem Marsch von Vengiboneeza hergekommen waren, und wenn er sich auf die andere Seite wandte, konnte er die dunkle Horizontlinie der See weit drüben im Westen erspähen. Gewöhnlich begab er sich allein hierher, doch hin und wieder nahm er Weiawala mit sich. Manchmal kopulierten sie dann dort oder tvinnerten sogar. An diesem erhöhten Platz wehten stets frische leichte Winde, und Salaman fühlte sich hier stärker lebendig als irgendwo sonst.
Ohne zu sprechen schritten sie durch die kleine Hauptstadt und an der Viehkoppel vorbei zu dem Schlängelpfad, der den südlichen Kraterrand hinaufzog.
„Was denkst du denn?“ fragte Weiawala nach einer Weile.
„An die Zukunft.“
„Wie kannst du an die Zukunft denken? Die Zukunft ist doch noch nicht geschehen, also was wäre da zum darüber Nachdenken?“
Er lächelte freundlich, ließ sie aber ohne Antwort.
„Salaman?“ begann sie wenig später erneut, während sie den Hang hinaufkletterten. „Wirst du mir etwas sagen?“
„Was denn, Liebste?“
„Tut es dir jemals leid, daß du aus Vengiboneeza fortgegangen bist?“
„Leid? Nein, nicht eine Minute lang.“
„Obwohl wir es hier mit dem Harruel zu tun haben?“
„Ach, Harruel ist schon ganz in Ordnung. Er ist der König, den wir nötig hatten.“ Salaman blieb stehen und blickte zurück auf das erbärmliche Häuflein grobgezimmerter Hütten, die ihre Stadt waren, und zu der halbvollendeten Palisade auf dem Kamm. Seine Hände ruhten sacht auf Weiawalas Schultern, und er streichelte ihr üppiges Fell. Sie trat einen Schritt zurück und kuschelte sich an ihn.
Nach einer Weile sagte sie: „Doch Harruel ist so eitel und aufgeblasen und so grob. Du verachtest ihn, Salaman, ich weiß es. Du hältst ihn für grobschlächtig und überheblich.“
Er nickte. Was sie sagte, entsprach natürlich der Wahrheit. Harruel war heftig, gewalttätig und grob und außerdem ein ziemlicher Dummkopf. Aber er war für den zeitweiligen Zweck der perfekte Mann gewesen, die absolut richtige Führergestalt an diesem geschichtlichen Schnittpunkt. Sein Mut war groß, und er verfügte über Schlauheit und Entschlußkraft und Ehrgeiz — und sehr großen Stolz. Ohne ihn hätte es niemals ein Yissoucity gegeben, auch nicht unter anderem Namen, und sie alle würden noch dort hinten zwischen den zerstörten Palästen Vengiboneezas ein bequemes faules Leben führen — ein Volk ohne Ziel, in träger endloser Erwartung der großen Dinge, die das Schicksal ihnen in den Schoß fallen lassen sollte.
Harruel hatte immerhin den Mut besessen und mit einer derartig richtungslosen Existenz der Selbsttäuschung gebrochen. Er hatte sich Koshmars Griff entwunden und hier etwas Neues, Nützliches und Notwendiges ins Leben gerufen.
„Harruel ist in Ordnung“, wiederholte er. „Soll er ruhig König sein! Soll er ruhig den Dingen Namen geben, wie es ihm gefällt! Dieses Vorrecht hat er sich verdient.“
Er zupfte an Weiawalas Hand, und sie setzten den Aufstieg fort.
Harruel würde nicht für alle Zeit König sein, das wußte Salaman.
Früher oder später würden die Götter ihn rufen, auf daß er ausruhe; und vielleicht war dies ja schon früher, möglicherweise, und nicht erst später. Seine Grobschlächtigkeit, seine Gewalttätigkeit und diese dumme Dickschädeligkeit mußten ihm früher oder später den Hals brechen. Und dann, dachte Salaman, wird Salaman an der Reihe und wird hier König sein, sofern Salaman da irgendwie mitzureden hatte. Salaman und die Söhne des Salaman — auf immer und ewiglich von da an. Sofern es dabei nach Salaman gehen würde!
Sie erreichten den Kraterrand und kletterten über die gerundete Spitze. Die Palisadenwand reichte noch nicht bis hierher. Zurückblickend, konnte er Yissoucity kaum noch erkennen, wie sie da genau im Herzen der Senke drunten lag. Die paar kleinen Hütten verloren sich in dem ringsum andrängenden Grün.
Aber Salaman war sich auch sicher, daß die Stadt nicht lange ein Haufen brüchiger Holzhütten bleiben werde. Eines Tages würde sich dort unten wahrlich eine großartige Stadt ausbreiten: so groß und so großartig wie Vengiboneeza vielleicht. Doch würde es keine Stadt aus zweiter Hand sein wie Vengiboneeza, das von den längst verschwundenen Saphiräugigen erbaut und als Ruinenberg von einem opportunistischen Rudel späterer Neusiedler übernommen worden war. Nein, schwor sich Salaman, die neue Stadt würde Kunde geben von der schweren Plackerei und dem Schweiß und der schlauen Planung ihrer eigenen Bewohner, die sich zu Herren über alle umliegenden Regionen erheben würden, und dann über die Provinzen jenseits von diesen und eines Tages, sofern es den Göttern gefiel, über die ganze Welt. Die Stadt des Yissou würde die Hauptstadt eines Großreiches, eines Imperiums, sein. Und die Sohnessöhne Salamans sollten Herrscher sein in diesem Reich.
Nun, da er den Krater hinter sich gelassen hatte, strebte er rasch auf seinen privaten Hochsitz zu. Nach kurzem rief Weiawala: „So warte doch auf mich, Salaman, ich kann nicht so rasch laufen!“ Er merkte, daß sie weit zurückgefallen war, und so hielt er inne, bis sie ihn eingeholt hatte. Zuweilen vergaß er, wie groß seine Ausdauer war und wie rasch und zielstrebig er sich bewegen konnte, wenn er auf etwas hinauswollte.
„Du hast es immer dermaßen eilig“, sagte sie.
„Ja. So ist das wohl.“
Er legte ihr den Arm um die Hüfte und fegte sie mit sich den Hang hinauf.
Es war die Zeit, in der Salaman zu seinem Recht kommen sollte. Er war siebzehn Jahre alt, fast achtzehn, ein starker Jungkrieger in vollem Saft.