Выбрать главу

„Er ist gar nicht hirnlos“, sagte Salaman. „Ich hab gesehen, wie er seinen Kalender führt. Er behält die Zeit genau im Kopf, die Jahre und so, das alles, das kann ich dir verraten. Der ist gescheiter, als du glaubst.“

„Außerdem war er früher schon hier unten“, sagte Sachkor von weiter hinten im Trupp. „Der kennt sich hier aus.“

„Wollen wir’s mal hoffen“, sagte Thhrouk. „Das würde mir nämlich gar nicht passen, wenn ich den Rest meines Lebens da in den Tunnels zubringen müßte.“

Vor ihnen erklang das scharfe Prasseln stürzender Steine, dann kam ein gedämpfteres, aber lauteres Geräusch, als ob die Decke des Gangs einzustürzen begonnen hätte. Thhrouk beugte sich nach vorn, ergriff Salaman bei den Schultern, seine Finger gruben sich schreckhaft tiefins Fleisch. Doch dann vernahm man von vorn Anijangs Stimme, die unmelodiös den Hymnos von Balilirion zu grölen begann. Also war der Mann in Ordnung.

„Seid ihr noch da, Jungs?“ rief der ältere Mann. „Schließt mal dichter auf, bleibt bei mir, ja?“

Salaman stieß gebückt, um einer herabhängenden Deckenbosse auszuweichen, voran. Die beiden anderen Jungen blieben dicht hinter ihm. Kleine huschende Geschöpfe mit roten Knopfaugen rannten an ihren Beinen vorbei. Über den Tunnelboden lief quer ein Rinnsal kalten Wassers. Sie erfüllten hier unten eine Staatsmission, nämlich einen Dekonsekrationsauftrag: In diesen dumpfen alten Kavernen ruhten heilige Objekte, die man nicht zurücklassen durfte, wenn das Volk den Kokon verließ. Es war nicht gerade ein Job, um den man sich begeistert reißen konnte; aber Sachkor und Salaman und Thhrouk waren die jüngsten Krieger, und Aufgaben wie diese gehörten nun einmal zu ihrer Ausbildung. Eine eklige Arbeit. Harruel selbst hätte so etwas nur höchst widerwillig getan. aber Harruel brauchte derlei nicht mehr zu tun.

Direkt hinter einer Biegung erwartete Anijang die Jungen. Da waren tatsächlich ein paar Felsbrocken niedergebrochen — sie lagen bis zu den Knöcheln um ihn herum —, und Anijang stierte zu dem offenen Bruch, aus dem sie sich gelöst hatten. „Frischer Gang“, sagte er. „Oder genauer, ein alter. Sehr alter Tunnel. Alt und vergessen. Yissou allein mag wissen, wieviele Schächte es hier insgesamt gibt.“

„Müssen wir da hinein?“ fragte Thhrouk.

„Steht nicht auf der Liste“, sagte Anijang. „Wir gehen hier weiter.“

In diesem Labyrinth von Tunneln gab es Nischen, alkovenartige Kapellen, die den Fünf Himmlischen geweiht waren, und in jeder lagerten hochheilige Kunstwerke, die man dort in den ersten Tagen des Kokons deponiert hatte. Die Kapelle Mueris und die von Friit hatten sie bereits gefunden; aber schließlich waren die beiden ja auch die ‚leichten‘ Götter, die Trostspender und Heiler. Die Votivhöhle von Emakkisdem-Ernährer sollte eigentlich als nächste kommen und dann, in tieferen Schichten, die Heiligtümer Dawinnos und, ganz tief unten, Yissous.

Die Kompliziertheit dieser düsteren unterirdischen Welt erstaunte Salaman. Nun, da das Volk sich anschickte, aus seinem Kokon auszuziehen, begriff er zum erstenmal ahnungsvoll, was es bedeutet haben mußte, siebenmal hunderttausend Jahre hier an diesem einen Ort festzusitzen. Nur über immense Zeiträume hinweg war es möglich gewesen, diese weitläufigen Konstruktionen anzufertigen. Jeder dieser Tunnelgänge war von Hand ausgekratzt, geschabt und geglättet worden, von Leuten, die genau wie er selbst waren, die geduldig Tag um Tag auf den dunklen kalten Fels meißelten und kratzten, sich in die Erde gruben, den Abhub fortschafften, die Wandungen glätteten und die Gewölbe mit Strebebögen abstützten — es mußte anderthalb Ewigkeiten gedauert haben, auch nur einen solchen Gang zu gestalten. Und wieviele davon gab es hier unten! Dutzende, Hunderte — die eine Weile in Gebrauch waren, ehe man sie aufgab. Salaman fragte sich, wieso das Volk nicht einfach dieselbe Anordnung von Gängen und Kammern von Anfang an und über die Zeiten hin beibehalten hatte, da der Stamm ja während des jahrhundertelangen Aufenthalts im Kokon zahlenmäßig nicht gewachsen war. Die Antwort darauf, vermutete er, mußte wohl in dem menschlichen Bedürfnis zu suchen sein, beständig und unablässig mit etwas beschäftigt sein zu müssen, höhere Ziele im Leben, als nur zu fressen und zu schlafen. Während einer Zeitspanne, die jeden Begriff überstieg, war das Volk in diesem Berghang am Großen Fluß gefangen gewesen und hatte sozusagen geschlafen, sich vor dem bitterharten Winter draußen lange und gemütlich in einem Zufluchtsort versteckt; und das Volk mußte dort seine Feldfrüchte besorgen und die Tiere versorgen und hatte seinen Exerzieraufgaben und den Ritualpflichten nachzukommen — doch selbst dies genügte dem Volk nicht. Andere Anlässe und Auslässe zur Energieverschwendung mußten gefunden werden. Also erbauten die Menschen des Volkes diesen Tunnelwirrwarr. Yissou! Was für eine Plackerei das gewesen sein mußte!

Als sie weiter vorankamen, erblickte Salaman in allen Winkeln seltsame Schatten. In den Tiefen schwebten geheimnisvolle Lichterfunken. Ab und zu sah er in der Ferne rätselhafte schimmernde Umrisse — gedrungene Pfeiler, schwere Bögen. Die vergessenen Kunstwerke vergessener Menschen. Hier unten war ein ganzes geschlossenes System von Höhlen und Gängen. Uralte Kammern, verlassene Altäre, Nischenreihen, steinerne Bänke. Zu welchem Zweck? Wie alt? Wann, vor wie langer Zeit verlassen?

Ab und zu vernahm er Laute wie ein weit entferntes Brüllen, wie von einem großen ungeheuerlichen Tier, das in den fernen Winkeln im riesigen Bauch des Berges in Ketten liegt. Und Salaman hörte seinen eigenen keuchenden Atem kontrapunktisch gegen das ferne Brüllen. Die Welt hing in der Schwebe rings um ihn. Und er befand sich in ihrem Mittelpunkt, begraben in einem Grab aus Stein.

„Hier gehen wir links weiter“, sagte Anijang.

Sie waren an einem Punkt angelangt, von dem aus ein halbes Dutzend unregelmäßig geformter Tunnels strahlenförmig von einer Zentralgalerie ausgingen. Der Steinboden war hier ungeglättet und fiel steil ab, beunruhigend steiclass="underline" es strengte die Knie stark an, wenn man derart steil und rasch abwärts steigen mußte. Der Gang verengte sich, je tiefer sie kamen. Salaman begann zu begreifen, warum man für diese Expedition Knaben ausgewählt hatte — und einen zusammengeschrumpelten Uralten wie Anijang. Gestandene, ausgewachsene vollfleischige Männer — wie etwa Harruel und Konya —, die wären zu feist gewesen für diese engen Korridore. Und sogar er hatte wegen seiner breiten Schultern und seines starken Körperbaus an manchen engeren Stellen Schwierigkeiten voranzukriechen.

„Sag mal, Salaman. was meinst denn du, wie das sein wird, wenn wir hinaus ziehen?“ fragte Thhrouk plötzlich völlig zusammenhanglos.

Die Frage überraschte Salaman. Er wandte den Kopf über die Schulter. „Woher soll ich denn das wissen? War ich etwa schon mal draußen?“

„Bestimmt nicht. Bloß an deinem Namenstag, und das dauerte ja wohl nicht besonders lang. Aber was meinst du, wie es dort sein wird?“

Er zögerte. „Anders. Schwierig. Schmerzlich.“

„Schmerzlich?“ fragte Sachkor. „Wieso denn das?“

„Dort draußen ist die Sonne. Und die verbrennt dich. Und der Wind ist dort. Man sagt, der schneidet durch dich hindurch wie ein Messer.“

„Wer sagt das?“ fragte Thhrouk. „Thaggoran?“

„Weißt du denn nicht mehr, wie das an deinem Namenstag war? Auch wenn du bloß einen Augenblick oder zwei draußen warst. Und du hast doch gehört, was Thaggoran aus der Chronik rezitiert hat. Wie nackt und offen dort alles ist, dort draußen. Der Sand, der dir in die Augen peitscht. Und Schnee — so kalt wie Feuer.“

„So kalt wie Feuer?“ fragte Sachkor. „Aber Feuer ist doch heiß, Salaman.“

„Ach, du verstehst schon, was ich meine.“

„Nein. Nein, ich versteh nicht, ganz und gar nicht. Solches Zeug würde man von Hresh erwarten. Kalt wie das Feuer: das ist doch sinnloser Quatsch.“