Im Kokon war er nur einer unter vielen gewesen, hatte herumgespielt mit Fußboxen und Ringen, Höhlensegeln und so und hatte sich gefragt, ob das Kopulieren tatsächlich so angenehm sein könnte, wie die älteren Jungen andeuteten. Doch obwohl sein Geist scharf war und er die Dinge klar und präzise erkannte, gab es für ihn keinen Anreiz, den anderen seine Intelligenz zu beweisen, dafür um so mehr Grund, sie verborgen zu halten. So durchlebte er eine ganz und gar nicht außergewöhnliche Knabenzeit und erstrebte weder etwas besonders noch erwartete er das Besondere. Damals hatte er geglaubt, so werde sein Leben bis ans Ende seiner ihm bestimmten Tage sein, ein langer angenehmer Reigen einander gleichender Tage.
Aber dann war die Zeit des Auszugs gekommen, der lange Marsch über die Steppen. In diesem Jahr war Salaman in seine Mannheit eingetreten und war zu seiner vollen Kraft erblüht; denn war er auch von kerniger Statur, so doch breit in den Schultern, hatte kräftige Arme und steckte voller Energie und Durchhaltevermögen. Vielleicht war von allen Kriegern nur Konya stärker — und selbstverständlich Harruel. Doch in der fremdartigen neuen Welt außerhalb des Kokons durchlief Salaman eine geistig-seelische Blütezeit. Er begann sich nach einer Zeit zu sehnen, in der er ein bedeutender Mann im Stamm sein würde, geehrt und geachtet. Jedoch fiel er keinem auf, weil er so ruhig war.
Manche von den Männern waren wortkarg und ruhig. Salaman vermutete, weil sie nichts zu sagen wußten. Konya war ein solcher, auch Lakkamai. Aber Salamans Stummheit hatte einen anderen Grund. Es könnte gefährlich werden, so hatte er schon immer geargwöhnt, wenn er seine Fähigkeiten zu früh an den Tag brächte, jedenfalls angesichts der allgemeinen gewaltsamen Entwicklung der Dinge zur jetzigen Zeit.
Das Beispiel Sachkors stand ihm nur zu deutlich vor Augen. Auch Sachkor war intelligent gewesen; und Sachkor war jetzt tot. Intelligenz genügte also allein nicht — man brauchte auch Weisheit und Klugheit —, und Sachkor, als er im Alleingang auszog, um das Helmvolk aufzuspüren, es dann mit sich in die Stadt zurückzubringen und sich dann noch als Vermittler zwischen den beiden Stämmen aufführen zu wollen, Sachkor hatte nicht gerade große Klugheit bewiesen.
Sachkor war zu früh zu weit gegangen. Er hatte sich als zu gescheit und als zu ehrgeizig gezeigt. Und eben diese Gescheitheit und Gewandtheit hatten ihn für Harruel zu einer direkten Bedrohung werden lassen. Auch Hresh war gescheit, weitaus klüger als irgendwer sonst, doch er war kein Krieger, hielt sich abseits, tat nur Dinge, die außer Hresh keinen interessierten; keiner brauchte zu befürchten, daß Hresh eines Tages nach der höchsten Macht greifen würde. Aber Sachkor war ein Krieger, und sobald er die Behelmten in die Stadt geführt hatte, hatte er sich in direkte Gegnerschaft zu Harruel begeben. Und zusätzlich war Sachkor nicht gescheit genug gewesen, sich in der Kreun-Sache zurückzuhalten und Harruel nicht herauszufordern. Keiner, der sich blindlings in einen Kampf mit Harruel einließ, hatte besonders gute Chancen, lang genug zu leben, daß sein Pelz weiß werden konnte.
Darum hatte Salaman es in Vengiboneeza vorgezogen, das Ressort Klugheit dem Hresh und das Heldenfach dem Sachkor zu überlassen. Unauffällig hatte er sich Harruel nützlich zu machen gewußt, und als es zu dem Bruch mit Koshmar kam, hatte er sich rasch auf Harruels Seite geschlagen. Inzwischen war es soweit gekommen, daß Harruel auf ihn angewiesen war, weil er die meiste Denkarbeit für ihn erledigte. Gewissermaßen war Salaman so etwas wie der Alte Mann dieses neuen Stammes geworden, den Harruel begründet hatte. Jedoch ließ Salaman es sich höchlichst angelegen sein, niemals den Eindruck aufkommen zu lassen, daß er ein Rivale für Harruel sein könnte; er blieb stets der getreue Gefolgsmann, der stumme Stellvertreter. Salaman hatte sehr wenig Ahnung von Geschichte — das war Hreshs persönliches Studiengebiet gewesen —, doch stellte er sich vor, daß es bei plötzlichen Machtwechseln gewiß oft die stillen Stellvertreter waren, die in die höchsten Ränge aufrückten.
Solche Gedanken behielt Salaman allerdings für sich und teilte sie mit niemandem. Nicht einmal zu Weiawala hatte er ein Wort über seine Erwartungen in den künftigen Jahren verloren, obwohl sie möglicherweise während ihrer Tvinnr-Erlebnisse einen Teil der Wahrheit aufgeschnappt haben mochte. Doch selbst dabei versuchte er seine Pläne vor ihr zu kaschieren. Seine Parole lautete: Vorsicht.
Sie hatten die angestrebte Höhe nun erreicht. Weiawala stand um ihn geschlungen bei ihm, während er zum Meer hinüberstarrte. Offenbar war sie kopulationswillig.
Die Sonne war hell und stand hoch, die Luft war klar, fast leuchtete sie vor Durchsichtigkeit. Der Himmel war ein scharfes Blau. Stark und süß wehte der Wind aus dem Süden, warm und trocken. Vielleicht würde er an Stärke zunehmen und das Land versengen, doch hier und jetzt war es ein sanfter und freundlicher Wind, ein Wind für die Liebe.
Alle Welt lag an diesem Tag vor ihm ausgebreitet.
Salaman stellte sich vor, daß er alles sehen könnte, die Ruinenstädte der Großen Welt, die Pockennarben der Krater der Todessterneinschläge, die kahlen Ebenen, durchzogen von Eisflüssen, die schrecklichen Wabenbauten, in denen die Hjjk lebten. Und darübergelagert die neue junge Welt, den Neuen Frühling, seine Welt, die Welt seines Volkes. Er sah eine Vision dessen in umfassender Vielfältigkeit, alles wachsend, drängend, vor Leben berstend. Es fand eine wundersame Genesung statt, nach der entsetzlichen Zeit der Todessterne. Und er war mittendrin, er und seine Söhne und die Söhne seiner Söhne, die Großen im künftigen Weltenreich des Yissou.
Plötzlich sagte Weiawala: „Nettin kriegt schon wieder ein Kind, stell dir vor!“
Ihre Rede zerstörte sein Traumgespinst, so wie ein Vogelkreischen im Morgengrauen tiefen heiteren Schlaf durchstößt. Er spürte Zorn in sich aufwallen. Flüchtig bedauerte er, daß er sie heute mit hierher genommen hatte; aber dann beruhigte er sich und rang sich ein Lächeln und ein Nicken ab. Weiawala war seine Liebste; Weiawala war seine Genossin. Ich muß sie hinnehmen, wie sie eben ist, sagte er sich. Auch wenn sie mich stört und ablenkt.
„Das erste, was ich höre. Gute Nachricht.“
„Ja. Der Stamm wächst jetzt rasch, Salaman.“
Und so war es. Weiawala hatte bereits einen Knaben zur Welt gebracht, dem sie den Namen Chham gaben, und Galihine hatte ein Mädchen namens Therista geboren, und Thaloin hatte dem Stamm einen neuen Ahurimin geschenkt. Und nun schwoll Nittins Bauch schon wieder an.
Nur Minbain war zu Harruels unverhohlenem Mißvergnügen nicht wieder schwanger geworden, seit man sich in Yissoucity niedergelassen hatte. Vielleicht ist sie schon zu alt, überlegte sich Salaman. Manchmal konnte man Harruel, wenn er zuviel Samtbeerwein getrunken hatte, mit ihr zanken und brüllend einen weiteren Sohn von ihr fordern hören. Aber man zeugt eben keine Söhne, indem man seine Partnerin anbrüllt, wie Salaman mehr als einmal zu Weiawala gesagt hatte.
Außerdem fand Salaman es sowieso ziemlich kurzsichtig von Harruel, unbedingt auf einem weiteren Sohn zu beharren. Was die Stadt in diesem Entwicklungsstadium nötig brauchte, waren mehr gebärfähige Weiber. Ein einziger Mann allein konnte in einer einzigen Woche ein ganzes Rudel Kinder zeugen, wenn er sich ein wenig Mühe gab. Schließlich brauchte ein Mann ja nicht länger als einen Augenblick, um ein Kind in eine Frau hineinzupumpen. Aber jedes Weib konnte bestenfalls pro Jahr nur ein Kind hervorbringen. Also blieb das Jahreswachstum des Stammes durch die Anzahl der Frauen begrenzt; und deshalb, überlegte Salaman, brauchen wir dringend mehr Frauen und müssen Töchter zeugen, nicht Söhne, daß wir in der folgenden Generation über sehr viel mehr Gebärmütter verfügen.
Aber vielleicht war dies eine für Harruel zu komplizierte Vorstellung. Oder er wollte einfach mehr Söhne haben, damit sie ihm seinen Thron bewahren halfen. Möglich, daß es dies war. Harruels kleiner Knabe, Samnibolon, wies bereits Anzeichen von ungewöhnlicher Kraft auf: ein künftiger Krieger, ohne Zweifel. Und Harruel machte sich vielleicht Sorgen wegen seiner alten Tage und wartete ungeduldig auf noch ein paar derartige Brocken wie Samnibolon als Schutz und Stütze für seine Greisenjahre.