Aber ob sie sie auch selbst nun zu sprechen vermochte?
Ihr fielen keine Worte ein. Sie steckten tief in ihrem Gehirn und wollten ihr nicht auf die Lippen steigen. Ich bin gekommen, um den Mann mit der Narbe auf der Schulter zu besuchen, das hatte sie sagen wollen. Aber sie fand es einfach unmöglich, sich zu überwinden und diesem Posten da so etwas zu sagen. Sie war an diesem Tag schüchtern wie ein junges Mädchen; und die Stimme des Mannes hatte für ihre Ohren kalt und feindselig geklungen, und seine Worte waren wie eine Abfuhr, eine Zurückweisung für sie gewesen, obwohl sie wahrscheinlich nichts weiter als eine Routinebefragung darstellten. Furcht überkam sie. Die Entschlossenheit, die sie hierher geführt hatte, war nie besonders fest gewesen, und jetzt kam sie ihr völlig abhanden. Sie war gar nicht gekommen, um jemanden zu besuchen; das Ganze war ein Irrtum; und sie hatte hier nichts zu suchen. Ohne zu antworten machte sie kehrt und wollte weggehen.
„Warte!“ sagte der Beng. „Wohin willst du, Weib?“
Sie rang mit sich selbst und blieb stehen. Noch immer brachte sie kein Wort hervor.
Schließlich gelang es ihr nur dies zu stammeln: „Bitte. bitte.“
Sie merkte, daß sie bengisch gesprochen hatte. Wie seltsam das war, daß sie diese fremden Wörter verwendet hatte! Nun mach schon, dachte sie. Sag das übrige auch noch. Ich bin gekommen, um den Mann mit der Narbe auf der Schulter zu besuchen. Nein, sie konnte es noch immer nicht sagen, nicht zu diesem finster blickenden Fremden — und zu gar keinem. Sie konnte es ja kaum zu sich selber sagen.
„Du bist die Opferfrau?“
Torlyri blickte ihn groß an. „Du kennst mich?“
„Alle kennen dich, ja. Warte hier! Genau hier an dieser Stelle, Priesterin. Hast du mich verstanden?“ Er zeigte auf den Boden. „Hier. Stehenbleiben!“
Sie nickte.
Aber ich kann ja ihre Sprache sprechen! dachte sie verwundert. Und ich verstehe, was er zu mir sagt. Und dann mache ich den Mund auf, und herauskommen ihre Wörter.
Der Posten machte scharf kehrt und verschwand in der Beng-Siedlung.
Und Torlyri stand da und zitterte. Er will, daß ich hier warte, sagte sie sich. Warte — worauf? Auf wen? Was soll ich nur tun?
Warte sagte eine Stimme tief in ihrem Innern.
Die Minuten glitten dahin, und der Wachposten kehrte nicht zurück. Der heiße staubgeschwängerte Wind wehte mit solcher Wucht durch die Schlucht der leeren alten Gebäude, daß sie sich mit den Händen das Gesicht gegen ihn schützen mußte. Und wieder dachte sie daran, sich still und rasch zu entfernen, ehe jemand herankam. Und wieder zögerte sie. Sie wollte weder bleiben noch fortgehen. Und nun begann ihre eigene Unentschlossenheit ihr Spaß zu bereiten und sie zum Spott zu reizen. Du, in deinem Alter! sagte sie sich. Solche Befürchtungen? Solch eine lächerliche Schüchternheit? Wie eine kleine Göre. Wie ein ganz kleines junges dummes Mädchen!
„Opferfrau! Hier ist er, Opferpriesterin!“
Der Wachposten war zurückgekehrt. Und an seiner Seite war er. Sie hatte nicht zu fragen brauchen; der Posten hatte Bescheid gewußt. Wie ausgesprochen peinlich! Aber auch — um wieviel einfacher für sie.
Der Posten trat zurück, der andere kam näher. Torlyri sah die Narbenschulter, sah seine wunderschönen forschenden roten Augen, den hohen gewölbten Goldhelm. Sie begann zu zittern und befahl sich erzürnt, damit aufzuhören. Niemand hatte ihr diesen Augenblick auf gezwungen. Sie selbst hatte ihn so gewollt. Nur sich allein konnte sie bestenfalls beschuldigen.
Und im nächsten Augenblick merkte sie, daß sie gleich zu weinen beginnen würde. Trotzdem gelang es ihr nicht, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Ihre Furcht war zu gewaltig. Hier stand ihre Seele auf dem Spiel. Solange keiner von beiden die Sprache des anderen verstehen oder sprechen konnte, war der kleine Flirt, den Torlyri sich erlaubte, durchaus ungefährlich, nicht mehr als ein unschuldiges Spiel, ein angenehmer Zeitvertreib. Sie konnte noch immer so tun, als wäre da gar nichts zwischen ihnen beiden, daß nichts versprochen und nichts gewagt worden war, nichts war geschehen und verbindlich. Und wahrlich, dem war so. Leider.
Doch nun, daß sie die Bengsprache verstand.
Nun, da sie ausdrücken konnte, was sie auf dem Herzen hatte.
Der Wind blies nun noch heißer und heftiger, so daß die schwere Staubfracht, die er mit sich trug, den Himmel über Dawinno Galihine verdunkelte. Torlyri hatte den Eindruck, der Wind würde — falls er nur noch um ein weniges stärker werden sollte — diese wackeligen Bauten niederwehen, die den Stürmen und Erdbeben von siebenmal hunderttausend Jahren standgehalten hatten.
Der Narbenschultrige starrte sie seltsam an, als sei er über ihr Kommen erstaunt, und dabei hatte sie doch bereits viele Male zuvor der Beng-Siedlung Besuche abgestattet. Lange sagte er kein Wort. Und sie auch nicht.
Schließlich sagte er: „Opferfrau?“
„Torlyri ist mein Name.“
„Torlyri. Es ist ein sehr schöner Name. Du verstehst, was ich zu dir sage?“
„Wenn du langsam sprichst. Und du? Verstehst du auch mich?“
„Du sprichst unsere Worte sehr schön. Sehr schön. Deine Stimme ist so weich.“ Er lächelte und hob beide Hände an die Seiten seines Helmes und ließ sie dort für einen Augenblick liegen, als sei er unentschlossen. Dann schnürte er hastig den Kinnriemen auf und nahm den Helm ab. Sie hatte ihn noch nie mit unbedecktem Haupt gesehen, ja, sie hatte noch nie irgendeinen der Beng-Männer ohne Kopfschmuck erblickt. Die Verwandlung war beunruhigend. Auf einmal erschien ihr sein Kopf seltsam klein und seine Statur wie geschrumpft, auch wenn er — von der ungewohnten Färbung des Fells und der Augen abgesehen — nun genauso aussah wie irgendein Mann in Torlyris eigenem Stamm.
Der Posten, der sich etwas abseits herumgetrieben hatte, hustete demonstrativ und wandte sich ab. Torlyri begriff, daß die Helmabnahme irgendwie eine Art Einladung zur Vertraulichkeit darstellen mußte oder vielleicht ein gar noch bedeutungsschwangerer Akt der Verpflichtung und Preisgabe sein konnte. Das Zittern, das verflogen war, ohne daß sie es bemerkt hätte, begann von neuem.
Er sprach: „Mein Name lautet Trei Husathirn. Willst du mit mir in mein Haus kommen?“
Sie setzte an, ihm zu sagen ja, und gern. Doch sie hielt sich im Zaum. Gut, sie verstand die Sprache der Beng — oder doch immerhin so bruchstückhaft, wie Hresh sie erlernen und sie ihr hatte beibringen können —, aber woher sollte sie die versteckten Bedeutungen hinter den Wortbedeutungen wissen? Was bedeutete „Willst du mit mir in mein Haus kommen?“ wirklich? War es eine Aufforderung zur Kopulation? Zum Tvinnern? Vielleicht sogar zur Ehelichkeit? Yissou, steh mir bei, wenn dem so ist, dachte sie, wenn er annimmt, ich verpflichte mich und gelobe mich ihm an als seine eheliche Gefährtin, wo ich doch nichts weiter von ihm weiß als seinen Namen! Oder bedeutete der Satz weiter nichts als eine Feststellung, daß man ja nicht in einer glühend heißen, staubigen windgepeitschten Straße stehen müsse, wenn man an einem weitaus angenehmeren Ort gemütlich bei Wein und Gebäck sitzen könne?
Sie stand da, blickte ihm forschend ins Gesicht und betete um göttliche Leitung.
In dieses Schweigen hinein sprach er — und er klingt irgendwie verletzt, dachte sie, obwohl ja der Tonfall der Bengsprache dermaßen heftig ist, daß man da nicht sicher sein kann: „Du willst also nicht mit mir kommen?“
„Das habe ich nicht gesagt.“
„Dann laß uns gehen.“
„Du mußt aber verstehen — ich kann nicht lange bleiben.“
„Natürlich. Nur eine kleine Weile.“
Er wandte sich zum Gehen; doch sie blieb immer noch bewegungslos stehen.
„Torlyri?“ sagte er und streckte die Hand nach ihr aus, ohne sie allerdings zu berühren.