Выбрать главу

„Ich meine damit, daß der Schnee dich verbrennt. Und es ist ein anderes Brennen als das vom Feuer oder von der Sonne.“ Salaman sah, daß sie ihn anstarrten, als habe er den Verstand verloren. Keine so gescheite Idee, dachte er, daß ich zu denen davon spreche. Aber er hatte insgeheim ziemlich intensiv über das alles nachgedacht. Er war ein Soldat, also war es nicht seine Aufgabe zu denken. Seine Kameraden würden da eine Seite von ihm kennenlernen, die er ihnen eigentlich lieber vorenthalten hätte. Er zuckte die Achseln und sagte: „Ich habe wirklich überhaupt keine Ahnung von dem ganzen. Ich hab bloß so Vermutungen.“

„Hierher!“ rief Anijang. „Hier geht es lang!“

Er tauchte in eine schwarze Öffnung, die kaum weiter war als sein Leibesumfang.

Salaman blickte zu Sachkor und Thhrouk zurück, schüttelte den Kopf und tauchte hinter Anijang her. Hier gab es an den Wänden Markierungen, blutfarbene Streifen und tiefeingeritzte Dreiecke, heilige Zeichen, Hinweise darauf, daß man sich auf die göttliche Nähe Emakkis’ zubewege. Also wußte Anijang anscheinend noch immer, was er tat: sie näherten sich dem dritten der fünf heiligen Schreine.

Und da Thhrouk diesen Gedanken in ihm ausgelöst hatte, ertappte sich Salaman erneut dabei, daß er über die vor ihnen liegenden Veränderungen nachdachte. Ein Teil seiner Seele vermochte es noch immer nicht so recht zu glauben, daß sie wirklich aus dem schützenden Kokon hinauswandern würden. Jedoch, die wochenlangen Vorbereitungen ließen sich nicht wegdiskutieren. Sie würden hinausgehen. Um in der Kälte zugrundezugehen? Nein. Nicht, wenn Thaggoran und Koshmar recht behielten: Der Neue Lenz war gekommen, sagten sie, und wer hätte ihnen widersprechen können? Und doch entdeckte er in sich Furcht vor dem ‚Aufbruch‘. Vor dem Abschied aus der gemütlichen sicheren Schutzhülle des Kokons, davor, alles abzustreifen, das ihm im Leben liebvertraut und angenehm war. — Mueri! Die Vorstellung war furchteinflößend. Und nun hatte er sich selber noch größere Furcht eingejagt, durch sein eigenes Gerede nämlich von der brennenden Sonne und dem brennenden Schnee und dem scharfen beißenden Sandwind in.

„Was ist das für ein Geräusch?“ sagte Thhrouk und bohrte erneut die Finger in Salamans Schultern. „Das Grammeln in den Wänden? Eisfresser!“

„Wo?“ fragte Salaman.

„Da. Und da.“

Salaman preßte ein Ohr an die Wand. Tatsächlich, er hörte etwas dahinter, ein merkwürdiges reißendes, schabendes, gleitendes Geräusch. Er malte sich einen gigantischen schnaubend-röchelnden Eisfresser aus, dicht auf der anderen Seite der Wand, der sich hirnlos zum Kamm des Kliffs hinauf vorwärtsfraß. Dann lachte er. Er unterschied in dem Geräusch ein entferntes Platschen, ein leises Murmeln. „Das ist Wasser“, sagte er. „Durch die Wand da läuft eine Wasserader.“

„Wasser? Bist du sicher?“

„Aber, hör doch bloß mal hin!“ sagte Salaman.

„Salaman hat recht“, sagte Sachkor nach einer Weile. „Das ist kein Eisfresser. Schaut mal dort, da könnt ihr ein Stück weiter vorn das Wasser aus der Wand rinnen sehen.“

„Aha“, sagte Thhrouk. „Ja. Du hast recht, Yissou! ich möcht nicht grad ’nem Eisfresser begegnen, wenn wir hier drunten herumziehen.“

„Kommt ihr endlich weiter?“ rief Anijang. „Haltet euch hinter mir, oder ihr verlauft euch, das versprech ich euch!“

Salaman lachte. „Na, das wollen wir aber wirklich nicht.“

Und er eilte so rasch voran, daß er in seiner Überstürzung beinahe seine eigene Lampe ausgepustet hätte. Anijang erwartete sie am Zugang zu einer Kammer, die von der abzweigte, in der sie sich befanden; er zeigte nach drinnen und auf das heilige Emakkis-Abbild, das dort auf einem Altar stand. Von den vier Kriegern war nur Sachkor schlank genug, sich hineinzuzwängen und das Bildnis zu holen.

Während Sachkor behutsam in das Heiligtum des Ernährers schlüpfte, trat Salaman beiseite und dachte weiter über den Großen Auszug nach, über die Gefahren, die er mit sich brachte. Die Mühsal und Not und Neuheit, dachte erneut über die Sonne nach, die auf sein Gesicht brennen würden, über den Schnee, über den Sand. Ja doch, es war ein erschreckendes Unterfangen. Und dennoch, je länger er darüber nachdachte, desto weniger schrecklich schien es ihm zu sein. Hinauszugehen, gewiß, das war ein Risiko — es war rundum nur und ausschließlich ein Risiko —, aber was für eine Alternative gab es denn? Sein Leben in diesem Bau von dunklen dumpfigen Höhlengruben zu Ende zu leben? Nein! Und abermals NEIN! Sein Volk würde den Großen Aufbruch wagen, den Auszug in die Freiheit, und diese Vorstellung war begeisternd. Die ganze Welt stand für sie bereit. Sein Herz begann zu rasen. Seine Befürchtungen fielen von ihm ab wie Schuppen.

Sachkor kam aus der kleinen Kapellenkammer geklettert. Das Eidolon Emakkis’ hielt er fest umklammert. Er bebte, und auf seinem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck.

„Was ist denn?“ fragte Salaman.

„Eisfresser“, sagte Sachkor. „Nein, diesmal ist es kein Wasserlauf. Diesmal sind sie es wirklich. Ich hab sie am Fels direkt auf der anderen Seite der inneren Wand nagen hören.“

„Nein“, sagte Thhrouk. „Das kann nicht sein.“

„Geh rein und hör es dir selber an!“ sagte Sachkor.

„Aber ich paß doch nicht durch.“

„Dann geh eben nicht rein. Wie du willst. Ich hab jedenfalls Eisfresser gehört.“

„Kommt weiter!“ sagte Anijang.

„Wartet mal!“ sagte Salaman. „Laßt mich mal da rein! Ich will das hören, was Sachkor da gehört hat.“

Doch er war zu stämmig für den Durchgang; und nachdem er _ es eine Weile versucht hatte und seine Schultern nicht durch die enge Öffnung passen wollten, gab er es auf, und sie zogen weiter und überlegten sich, was es wohl wirklich gewesen sein mochte, was Sachkor dort drin gehört hatte. Aber direkt hinter der nächsten Biegung bekam Salaman seine Antwort. Dort dröhnte die Höhlenwandung in einer dumpfen schweren Vibration. Er drückte die Hand dagegen, und es war so, als erschütterte etwas die ganze Welt. Vorsichtig hob er sein Sensororgan und griff mit seinem Zweiten Gesicht zu. Und was er auffing, das war Wucht, Masse, Kraft, Bewegung.

„Eisfresser, genau“, sagte Salaman. „Ganz dicht hinter der Wand da. Sie fressen den Fels auf.“

„Yissou!“ flüsterte Thhrouk und vollzog hastig den ganzen Kanon der heiligen Schutzzeichen. „Dawinno! Friit! Die werden uns vernichten!“

„Dazu werden sie keine Gelegenheit bekommen“, sagte Salaman. Er lächelte. „Wir verlassen den Kokon, hast du das vergessen? Wir sind schon durch die halbe Welt davon, bevor die auch nur in die Nähe der Höhe unserer Wohnkammer kommen.“

Minbains Erwachen erfolgte rasch, wie stets. Ringsum vernahm sie die Morgengeräusche des Kokons — das vertraute Scheppern und Schnattern, das Lachen, das Brabbeln von Unterhaltungen, das Platschen laufender Füße über dem Steinboden der Wohnkammer. Sie schälte sich aus ihren Schlafpelzen, erhob sich und verrichtete das morgendliche Gebet zu Mueri, dann sprach sie die vorgeschriebenen Worte für die Seele ihres davongegangenen Partners, Samnibolon.

Dann stürzte sie sich auf ihre Pflichten. Es war so viel zu tun, Millionen von Dingen mußten erledigt werden, ehe das Volk im Ernst den Kokon verlassen konnte.

Hresh war bereits wach. Sie sah, wie er ihr aus der Schlafnische zugrinste, wo weiter unten die Kleinen untergebracht waren. Immer war er vor allen anderen wach, sogar schon, bevor Torlyri aufstand, um das Morgenopfer darzubringen. Manchmal fragte Minbain sich, ob der Junge überhaupt je schlief.

Er kam zu ihr herübergehoppelt, die dünnen Arme und Beine wirbelten wie Trommelstöcke, sein Sensororgan stakte komisch unorthodox hinter ihm drein. Sie umarmten einander. Der Bub besteht ja nur aus Knochen, dachte sie. Er ißt einigermaßen, aber nichts setzt bei ihm an: er verbraucht die ganze Energie für dieses viele Denken, was er da immer tut.