„Nein, Hresh!“
„Oh, sehr intelligente Tiere. So gescheit, daß sie für uns Kokons bauten, als der Lange Winter kam — oder vielleicht haben wir die Kokons sogar selbst eingerichtet, da bin ich mir noch gar nicht sicher —, damit wir dort den Winter überdauern könnten. Und Dawinno hat uns verändert, uns mit mehr Intelligenz begabt, uns dermaßen intelligent gemacht, daß wir die Schriften der Chroniken fehlinterpretieren und uns für menschliche Wesen halten konnten. Für die Menschlichen. Aber das waren wir nicht, und ich weiß es. Und der Alte Mann der Beng weiß es gleichfalls. Seine Leute haben nie auch nur einen Augenblick lang geglaubt, sie wären etwas wie die Menschlichen, die in den Tagen der Großen Welt lebten.“
„Aber wenn die Menschlichen, wie es in den Chroniken heißt, das Erbe der Erde antreten sollen, nun da der Winter vorbei ist.“
„Nein“, unterbrach Hresh. „Die Menschlichen sind alle dahin und tot. Ich vermute, sie sind allesamt im Langen Winter zugrunde gegangen, außer unserem Ryyig, dem Träumerräumer, und der war vielleicht der letzte Menschliche. Nein, uns ist die Erde als Erbe zugesprochen, Taniane. Doch um dieses Erbe antreten zu können, müssen wir erst zu Menschlichen werden.“
„Da kann ich dir nicht folgen. Wenn wir nicht menschlich sind, wie könnten wir.?“
„Indem wir leben wie Menschen. Wir tun es ja schon jetzt — beinahe. Wir haben eine Sprache, wir haben eine Schrift, eine Tradition und Geschichte. Wir können bauen. Wir können unsere Kinder unterrichten. All dies sind Eigenschaften der Menschlichen, den Tieren fehlen sie. Tiere funktionieren durch Instinkt in dem, was sie tun. Unser Tun ist von Wissen, Kenntnis und Überlegung bestimmt. Verstehst du? Nicht bloß die Träumeträumer waren Menschliche, Taniane! Alle Sechs Völker der Großen Welt waren es! Die Menschlichen waren Menschen und die Saphiräugigen auch, und die Vegetalischen.“
„Die Hjjk etwa auch, Hresh?“
Hresh zögerte. „Also, wenn menschlich mit zivilisiert gleichzusetzen ist, dann ja. Wenn es bedeutet, daß man über die Fähigkeiten verfügt, zu lernen, etwas zu gestalten und zu schaffen, die Welt zu verändern. Nach diesem Maßstab sind sogar die Hjjk menschlich. Eben eine andere Art Mensch, mehr nicht. Und auch wir werden Menschen sein. Die neuen Menschen, die allerneueste Form von Menschen. Wenn wir wachsen und bauen und — denken. Wir müssen von hier fort, weg von diesem Vengiboneeza, das als erstes, und wir müssen etwas schaffen und aufbauen, das wirklich eigenständig unser ist! Wir können uns einfach nicht weiter in diesen Ruinentrümmern verstecken. Wir müssen ein eigenes Vengiboneeza erbauen, eine Zivilisation, die nicht nur zusammengeklittert ist aus den Trümmern und dem Schutt der vorhergegangenen. Verstehst du, was ich dir klarmachen will?“
„Ja. Ich. ich glaube, ich verstehe, Hresh. Es ist fast genau wie das, was Harruel gesagt hat.“
„Ja. Irgendwo hatte er begriffen, und dann ist er aufgebrochen, um das zu tun, was wir tun müssen. Und so grobschlächtig, dumm und brutal er sein mag, zumindest hat er begonnen, etwas aufzubauen. Und das ist auch unsere Aufgabe. Wir müssen beides begreifen — die Vergangenheit und die Zukunft. Das nämlich sind die wirklich Menschlichen — Leute, die etwas weitertragen, die Verbindungen herstellen zwischen dem Gewesenen und dem Kommenden. Und darum ist es für uns wichtig, die Erforschung dieser Ruinen abzuschließen, damit wir dabei alles entdecken, was aus der Großen Welt für uns künftig vielleicht noch von Nutzen sein kann. Und dann müssen wir es mitnehmen, wenn wir aus Vengiboneeza fortziehen, und es umsetzen für unsere eigenen Zwecke, um das aufzubauen, was wir zu bauen haben.“ Und nun lächelte Hresh. „Seit die Beng hier eingezogen sind, haben wir uns nicht viel um unsere Suche gekümmert, nicht wahr? Aber vor ein paar Nächten war ich allein unterwegs. Ich habe ganz am anderen Ende der Stadt ein neues Lagerhaus entdeckt. Die Beng haben mich erwischt, ehe ich hineinkonnte — ich bin mir nicht sicher, ob sie schon wissen, was es dort alles gibt, aber auf jeden Fall wollen sie uns von dort fernhalten. Und so etwas können wir natürlich nicht durchgehen lassen. Komm, wir gehen zusammen dorthin! Und dann schauen wir uns einmal an, was es dort drinnen gibt. Ja? Alles klar, Taniane?“
„Alles klar, sicher“, sagte sie. „Wann?“
„In einem Tag, in zweien. Bald.“
„Ja. Bald.“
Er streckte die Arme nach ihr aus, und sie dachte schon, er wolle erneut tvinnern; doch er wollte sie nur umarmen, und danach sprang er sogleich auf und streckte ihr die Hand hin, um auch ihr aufzuhelfen. Er müsse dringend Koshmar sprechen, sagte er. Die Sachen müßten diskutiert werden. Und außerdem stünden noch weitere wichtige Aufgaben an. Immer Aufgaben, immer Dinge, die er besprechen mußte. Und schon war er fort, und sie stand allein da und konnte nur den Kopf schütteln.
Hresh, dachte sie bei sich. wie seltsam du doch bist, Hresh! Aber — wie wundervoll, voller Wunder!
Der Kopf wirbelte ihr. Nicht-menschlich — wir müssen uns zu Menschlichen machen, uns vermenschlichen — wir müssen aufbauen — in Berührung sein mit der Vergangenheit und der Zukunft gleichermaßen.
Dann wanderte sie zum Hauptplatz der Siedlung und stand einfach so da und versuchte, ruhiger zu werden. Jemand näherte sich ihr von hinten. Haniman.
„Du komm und tvinnre mit mir“, flüsterte er.
„Nein.“
„Immer sagst du nein.“
„Bitte laß mich in Ruhe, Haniman!“
„Dann komm wenigstens kopulieren.“
„Nein!“
„Nicht einmal das?“
„Laß mich zufrieden, ja!“
„Was ist denn los, Taniane? Du wirkst so bedrückt.“
„Bin ich.“
„Aber sag mir doch, was dich bekümmert.“
„Laß mich in Ruhe!“ sagte sie.
„Ich will doch bloß versuchen, was zu tun, damit du dich besser fühlst. Das ist eine alte Sitte bei uns Menschen, weißt du nicht? Frau in Not — Mann kommt und bietet Notnagel.“
Sie funkelte ihn zornig und erbittert an. „Wir sind keine Menschen!“ schrie sie.
„Was?“
„Hresh sagt es. Und er hat die Beweise dafür. Wir sind nichts weiter als Tiere, genau wie die Wächter am Tor es gesagt haben. Die Träumeträumer waren die Menschlichen, und sie sind jetzt alle tot. Du bist weiter nichts als ein Affe mit einem größeren Gehirn, und ich ebenso, Haniman. Geh doch und frag Hresh, wenn du mir nicht glaubst! Und jetzt geh weg und laß mich in Frieden, ja? Laß mich in Ruhe! Laßt mich alle in Ruhe!“
Haniman konnte sie nur verdattert anstarren.
Dann wich er rückwärts von ihr fort. Taniane, eine Hand auf den Mund gepreßt, schaute ihm nach.
Im Dämmer der Kapelle, in den Rauchschwaden des schwelenden Feuers sah Koshmar maskierte Gestalten vor sich auftauchen. Diese da, mit dem schrecklich kriegerischen Schnabel, war Lirridon. Das war Nialli, die schwarz-grüne Maske mit der Wehr blutroter Stacheln. Und hier Sismoil, gesichtslos, rätselhaft. Und da, Thekmur. Und dort Yanla. Und hier York.
Sie klammerte sich an die Altarkante, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ein eisiger Schweiß war ihr am Leib ausgebrochen, und hinter ihrem Brustbein verspürte sie einen brennenden Schmerz. Ihre Kehle war ausgetrocknet, und sie wußte, daß diesen Durst nicht einmal ein Ozean würde stillen können.
„Koshmar“, sagte Thekmur. „Arme traurige Koshmar.“
„Arme bemitleidenswerte Koshmar“, sagte Lirridon.
„Wir weinen Tränen um dich, Koshmar“, sagte Nialli.
Sie blickte starr zu den überheblichen Gestalten hin, die vor ihr auf und ab stolzierten, und schüttelte erbost den Kopf. Das Letzte, was sie sich von ihren dahingeschiedenen Vorgängerinnen erwartete, wäre Mitleid gewesen.
„Nein!“ sagte sie, und ihre Stimme drang kaum aus ihrer Kehle, war nur ein heiseres hohles Röcheln. „Derlei dürft ihr mir nicht sagen!“