„Komm, geselle dich zu uns, Koshmar!“ sagte Yanla, die vor so vielen Jahren Häuptling gewesen war, daß nichts als ihr Name und ihre Maske die Erinnerung an sie am Leben erhielt. „Komm und bette dich in unsere Arme! Du warst lang genug Führerin und Häuptling.“
„Nein!“
„Ruhe dich aus bei uns!“ sagte York. „Schlafe in unserem Schoß und erfahre die Freude des Friedens für immer!“
„Nein!!!“
Thekmur, die ihr wie eine zweite Mutter gewesen war, kniete an Koshmars Seite nieder und sprach weich: „Wir kamen zum Tag unseres Todes, und wir gingen hinaus in die Kälte und legten uns nieder am ödeisigen Ort zum Tode. Was klammerst du dich so keck und wild an dein Leben, Koshmar? Du hast das Grenzalter erreicht und es überschritten, Koshmar. Und deine Müdigkeit ist gewaltig. Ruhe du nun aus, Koshmar!“
„Der Winter ist vorbei. Es gibt keinen eisigen Ort des Sterbens mehr. Hier — in der Zeit des Neuen Frühlings — hat das Grenzalter keine zwingende Bedeutung mehr.“
„Der Neue Frühling?“ fragte Sismoil. „Glaubst du denn, er sei wahrlich erschienen? Wahrlich und wirklich, der Neue Frühling?“
„Ja! Ich glaube es, ja!“
„Schlafe du nun, Koshmar! Und laß ein andres Weib wachen über dein Volk und es führen. Du hast die Hälfte deines Stammes verloren.“
„Nein! Nicht die Hälfte! Bloß ein paar Leute!“
„Die Beng rücken eurer Siedlung immer näher.“
„Ich werde die Beng niedermetzeln!“
„Ein jüngeres Weib wartet und wetzt ihren Witz für die Macht. Gib sie preis, übergib sie ihr, Koshmar!“
„Wenn ihre Zeit gekommen ist, nicht früher!“
„Ihre Zeit ist gekommen.“
„Nein. Nein und nein.“
„So schlafe du nun, Koshmar.“
„Nein, das denn wirklich noch nicht. Dawinno soll euch holen! Ich bin noch ziemlich lebendig, merkt ihr das denn nicht? Und ich herrsche! Ich bin der Führer!“
Koshmar war aufgesprungen und fuchtelte wütend mit den Armen, um die Rauchschwaden zu vertreiben, von denen das kleine Gemach erfüllt war. Doch dies kam sie teuer zu stehen: der dumpfe Schmerz unter ihrem Brustbein verstärkte sich auf bestürzende Weise heftig und stach tief in ihr Inneres, hart und scharf wie ein Stahl. Doch sie war nicht bereit, dieses Mißgeschick zur Kenntnis zu nehmen und sichtbar werden zu lassen. Sie stieß die auf Drehzapfen ruhende Steintür der Kapelle auf, ließ frische Luft hereinströmen, und die bläßlichen Gestalten der toten Stammeshäuptlinge wurden dünner, durchsichtig und verschwanden schließlich ganz. Mit ersticktem Husten taumelte Koshmar ins Tageslicht hinaus. Sie griff nach einem verwitterten Steinstück der Balustrade und klammerte sich dort fest, bis die krampfartigen Schwindelgefühle wieder vergingen.
Nie wieder betrete ich dieses Heiligtum, schwor sie sich. Sollen doch die Toten tot bleiben und unter sich. Ich brauche ihr Weisheitsgeraune nicht.
Langsam schritt sie an den sechs zerstörten und den fünf intakten Bögen vorbei, über den Platz mit den rosa Marmorplatten, die fünf Treppenfluchten aus Megalithen hinan. Sie wandelte an dem Stumpf des eingestürzten schwarzen Turmes vorbei, und dann nach Süden und Westen durch die Stadt in Richtung auf die Beng-Siedlung zu. Hin und wieder sah sie einen der Zinnobären, der allein umherstreifte und das Unkraut aus den zerbröckelnden Pflastersteinen zupfte. Über die Dächer sauste eine Affenhorde an ihr vorbei, kreischend wie üblich, und sie aus sicherer Entfernung mit Gegenständen bewerfend. Sie bedachte sie nur mit einem Blick voller Abscheu. Zweimal sah sie Behelmte in einiger Entfernung, Männer, die schweigend ihren unerforschlichen Aufgaben oblagen; nicht einer gab zu erkennen, daß er ihr Nahen irgendwie zur Kenntnis genommen hätte.
Sie war noch immer ein gutes Stück von der Beng-Siedlung entfernt, in einem Bereich voll riesenhafter umgestürzter Standbilder und spiegelheller Kioske, die zu silbrigen Scherbenhaufen zusammengesunken waren, als sie weit vor sich die schlanke Gestalt Hreshs erblickte. Er kam auf sie zugelaufen und brüllte und rief ihren Namen.
„Was ist denn?“ fragte sie. „Warum bist du mir hier heraus nachgefolgt?“
Er ließ sich auf der Schulter einer umgestürzten marmornen Kolossalstatue nieder und blickte erwartungsvoll zu ihr herauf. „Um mit dir zu reden, Koshmar.“
„Hier?“
„Ich möchte nicht, daß irgend jemand vom Volk uns zuhört.“
Koshmar bedachte ihn mit einem strengen abweisenden Blick. „Also wenn dies wieder irgendso ein neuer phantastischer Plan ist, den du mir vorlegen möchtest, dann solltest du vielleicht wissen, bevor du damit anfängst, daß du mich gerade in einem Moment erwischst, in dem ich allein und ungestört sein will, also triffst du mich in höchst unzugänglicher Laune an. In einer äußerst unzugänglichen.“
„Also, ich nehme an, das werde ich dann ja wohl riskieren müssen. Ich wollte mit dir darüber sprechen, daß wir diese Stadt verlassen müssen.“
„Du?“ Ihre Augen begannen zornig zu funkeln. „Hast du vor wegzulaufen? Zu Harruel, ja?“
„Aber nein, nicht zu Harruel. Nein. Und auch nicht bloß ich allein, Koshmar. Wir alle.“
„Alle?“ Der heiße stechende Schmerz unter dem Brustbein kehrte zurück. Sie hätte gern mit der Hand dagegen gedrückt. Aber dies würde Hresh auf ihre Zwangslage aufmerksam gemacht haben. Also beherrschte sie sich sehr mühsam. „Was für Torheiten sind das jetzt schon wieder? Ich habe dich doch gewarnt, daß du mich mit verrückten neuen Plänen verschonen sollst.“
„Darf ich trotzdem sprechen, Koshmar?“
„Sprich!“
„Ich möchte dich an den Tag erinnern, als wir vor Jahren hier in Vengiboneeza eingezogen sind. Wie die Künstlichen der Saphiräugigen uns verspottet haben und mich einen ‚kleinen Affen‘ nannten und uns erklärten, wir seien etwas anderes als richtige menschliche Wesen.“
„Wir gaben die angemessene Antwort, und die Torhüter haben uns als Menschliche akzeptiert und uns eingelassen.“
„Akzeptiert, ja. Aber sie haben niemals zugestanden, daß wir Menschliche von der Art der Großen Welt seien. ‚Ihr seid jetzt die Menschen‘, das haben sie gesagt. Weißt du nicht mehr, Koshmar?“
„Das Ganze ist sehr lästig, Hresh.“
„Was würdest du sagen, wenn ich dir berichte, ich habe unumstößliche Beweise dafür gefunden, daß die Wächter die Wahrheit gesprochen haben? Daß die Träumeträumer die wirklichen Menschlichen der Großen Welt gewesen sind, daß unsere Art damals kaum mehr war als Tiere?“
„Absurder Unsinn, Junge!“
„Ich habe die Beweise.“
„Absurde Beweise. Ich sagte damals, daß es möglicherweise vielerlei Arten von Menschlichen gegeben haben könnte, daß aber wir die einzige Art sind, die noch existiert. Und deshalb gehört die Welt mit Recht uns. Es besteht keine Notwendigkeit, Hresh, das Ganze wieder durchzuhecheln. Überhaupt, was hat es damit zu tun, daß wir aus Vengiboneeza fortziehen sollen?“
„Weil“, dozierte Hresh, „wenn wir menschliche Wesen sind und wenn wir die einzigen sind, die es noch gibt, wir von diesem Ort hier weichen sollten, um uns eine eigene Stadt zu erbauen, wie Menschen dies tun, anstatt als Okkupanten in den Ruinen irgendeines anderen uralten Volkes zu hausen.“
„Das ist das gleiche Argument, das auch Harruel vorgebracht hat. Es war Hochverrat, und es hat den Stamm gespalten. Wenn du glaubst, was er glaubt, dann solltest du fortgehen und bei ihm leben, wo immer er und seine Gefolgschaft sich aufhalten mögen. Willst du dies? Dann geh! Geh, Hresh!“
„Ich will, daß wir allesamt weggehen. Damit wir menschlich werden können.“
„Wir sind menschlich!“
„Dann sollten wir fortziehen, damit wir unserem Schicksal gemäß als Menschen leben können. Verstehst du denn nicht, Koshmar, der Unterschied zwischen Menschen und Tieren ist doch der, daß die Tiere einfach nur von einem Tag zum anderen leben, wohingegen die Menschen.“