„Genug!“ sagte Koshmar sehr ruhig. „Die Diskussion ist beendet.“
„Koshmar, ich.“
„Schluß!“ Sie legte die Hand auf die Brust und preßte sie fest dagegen und begann zu reiben. Der Schmerz war so heftig, daß sie sich am liebsten zusammengekrümmt und ihre Knie umklammert hätte, doch sie zwang sich, aufrecht sitzen zu bleiben. „Ich bin hier herausgegangen, um allein zu sein und über Dinge nachzudenken, die mich betreffen“, sagte sie. „Du hast dich mir trotzdem aufgedrängt, mich in meiner Privatsphäre gestört, obwohl ich dich bat, es nicht zu tun, und hast allen möglichen alten Unsinn hervorgezerrt, der für unsere jetzigen Lage von keinerlei Bedeutung ist. Wir sind keine Affen. Dieses schnatternde Gezücht auf den Dächern, das sind Affen, und sie sind keine Verwandten von uns. Und wir werden aus Vengiboneeza fortziehen, ja, wenn die Götter mir verkünden, daß unsere Zeit dafür gekommen ist. Es mir verkünden, Hresh, nicht dir! Ist dies klar? Gut. Gut. Und jetzt laß mich in Ruhe!“
„Aber.“
„Laß mich in Ruhe, Hresh!“
„Wie du wünschst“, sagte er und wandte sich um und ging langsam zur Siedlung zurück.
Als er außer Sichtweite war, krümmte Koshmar sich zusammen. Sie fröstelte, und Welle um Welle wallte der Schmerz durch ihren Leib. Nach einer kleinen Weile vergingen die Krämpfe, und sie richtete sich schweißgebadet auf, und das Hämmern in ihrem Herzen wurde allmählich schwächer.
Der Junge meint es gut, dachte sie. Er ist so ernsthaft, so eindringlich mit erhabenen Dingen wie Schicksal und Ziel beschäftigt. Und höchstwahrscheinlich hatte er sogar recht, daß das Volk von hier fortziehen sollte, um die Erfüllung seiner Geschicke anderwärts zu suchen. Ob wir nun Menschliche sind oder Affen, dachte Koshmar, und sie zweifelte nicht im geringsten daran, was das Volk sei, es kann uns nichts Gutes bringen, wenn wir noch viele Jahre länger hierbleiben in Vengiboneeza. Soviel war klar. Irgendwann müssen wir weiterziehen und müssen uns einen eigenen Ort bauen.
Aber nicht jetzt schon. Jetzt fortziehen, das würde den Sieg der Beng bedeuten. Der Abzug des Volkes durfte nicht mit dem Anschein des Makels behaftet sein, daß er unter dem von den Beng ausgeübten Zwang erfolgte, denn dies würde ein Schandfleck sein auf dem Ehrenschild des Volkes und dem ihrer eigenen Führerschaft bis ans Ende aller Zeiten. Man würde Hresh zu dieser Einsicht bewegen müssen. Und jeden anderen gleichfalls, den es ungeduldig zum Aufbruch drängte.
Taniane? Es könnte sein, daß sie dem Hresh diesen Floh ins Ohr gesetzt hat, dachte Koshmar. Taniane war ein ungeduldiges Kind, sie glühte vor Ehrgeiz. Es könnte sogar sein, daß sie sich bereitmachte, einen zweiten Abfall, eine neue Spaltung des Stammes anzuführen. Taniane und Hresh waren in jüngster Zeit ziemlich dicke Verbündete geworden. Und, spekulierte Koshmar weiter, vielleicht ist Hresh nur deshalb heute zu mir gekommen, um mir eine versteckte Warnung zukommen zu lassen, daß ich eine veränderte Politik zu dulden beginnen muß, weil es sonst einen gewaltsamen Wechsel gegen meinen Willen geben wird.
Nichts wird unter Zwang und gegen meinen Willen geschehen, dachte Koshmar wütend. Nichts!
Dann schloß sie die Augen und verkroch sich wieder in sich selbst und hockte nur so da.
Ich bin so furchtbar müde, dachte sie.
Sie ruhte, ließ ihren Kopf ganz leer werden, ließ ihren Geist in das lindernde Dunkel der Leere entschweben. Lange Zeit später blinzelte sie und richtete sich wieder auf, und sie sah, daß noch ein weiterer Besucher sich eingestellt hatte. Die klar erkennbare weißgestreifte Gestalt Torlyris kam winkend und lächelnd auf sie zu.
„Ach, hier bist du“, rief Torlyri. „Hresh hat mir gesagt, daß du hier irgendwo sein müßtest.“
Auch du? dachte Koshmar. Bist du gekommen, um mich mit dieser Sache zu plagen?
„Irgendwelche Probleme?“ fragte sie.
Torlyri blickte erstaunt drein. „Probleme? Nein, gar nichts. Die Sonne scheint hell. Alles ist in Ordnung. Aber du bist schon einen halben Tag lang fort. Ich habe dich vermißt, dich gesucht, Koshmar. Ich habe mich danach gesehnt, bei dir zu sein, deine Nähe zu spüren. Um die Wonne des mit dir Zusammenseins wieder zu genießen, die stets die höchste Lust meines Lebens gewesen ist.“
Koshmar gewann keine Wonne aus Torlyris Worten.
Sie klangen ihr bleiern in den Ohren, sie klangen unaufrichtig, ja ausgesprochen verlogen. Es fiel ihr schmerzlich schwer, Torlyri für unaufrichtig zu halten, die doch allezeit das Inbild von Liebe und Wahrheit gewesen war; doch Koshmar begriff, daß Torlyri jetzt aus einem Gefühl schuldhaften Unbehagens so zu ihr rede und nicht bestimmt von dem Gefühl, das sie einst für Koshmar gehegt hatte. Dies war nun zu Ende. Torlyri hatte sich verändert. Lakkamai hatte sie verändert, und ihr Behelmter hatte das Werk vollendet.
Sie sprach: „Ich mußte ziemlich ernst über einiges nachdenken, Torlyri. Also ging ich weg, um allein zu sein.“
„Aber ich hab mir Sorgen gemacht. Du wirkst in letzter Zeit so müde.“
„Ach, tat ich das? Ich hab mich aber nie besser gefühlt.“
„Koshmar, Liebe.“
„Sehe ich krank aus? Hat mein Fell den Glanz verloren? Ist die Glut aus meinen Augen geschwunden?“
„Ich sagte nur, du wirktest müde“, sagte Torlyri. „Nicht, daß du krank bist.“
„Ach ja, das stimmt.“
„Komm, laß uns hier ein Weilchen zusammen sitzenbleiben!“ sagte Torlyri. Sie sank auf einen glatten rosaroten Marmorblock, der am anderen Ende sich zu einem grinsenden Gesicht eines Saphiräugigen aufwölbte, ganz zähnefletschende Kieferbacken, und lud Koshmar ein, sich neben sie zu setzen. Ihre Hand ruhte sacht auf Koshmars Handgelenk, das sie zärtlich streichelte.
„Ist da etwas, das du mir sagen möchtest?“ fragte Koshmar nach einer Weile.
„Ich will nur bei dir sein. Schau doch, wie prachtvoll dieser Tag ist! Je weiter wir in den Neuen Frühling kommen, desto höher und höher steigt die Sonne am Himmel empor.“
„Ja, so ist es.“
„Kreun trägt ein Ungeborenes, das Kind des Moarn. Bonlai trägt jetzt auch ein Kind von Orbin. Der Stamm beginnt zu wachsen.“
„Ja. Gut.“
„Praheurt und Shatalgit werden bald ihr Zweites bekommen. Sie haben Hresh gebeten, es nach deiner Mutter zu taufen, Lissiminimar, wenn es ein Mädchen wird.“
„Ah. Wird mich freuen, den Namen wieder zu hören“, sagte Koshmar.
Sie fragte sich, wie die Dinge dieser Tage zwischen Torlyri und ihrem Behelmten stehen mochten. Sie wagte nie, sie danach zu fragen. Irgendwie war es ihr gelungen, die Beziehung zu Lakkamai zu ertragen, sogar daß sie mit Lakkamai kopulierte; aber ein Mann wie Lakkamai, der kaum je ein Wort sprach und der innerlich so völlig leer zu sein schien, konnte ja auch kaum eine Bedrohung für Koshmar sein. Nein, zwischen Torlyri und Lakkamai war weiter nichts als körperliche Lust gewesen. Aber diese neue Affäre da, die mit dem Behelmten — diese Munterkeit und Lebenslust, wenn sie und er zusammen waren, ihre Bewegungen, das Leuchten in ihren Augen — und die langen Stunden, die sie drüben in der Beng-Siedlung zubrachte — nein, nein, das war etwas anderes, etwas viel, viel Tieferes.
Ich habe sie an ihn verloren, dachte Koshmar.
Nach einem weiteren Schweigen sagte Torlyri: „Die Beng möchten uns wieder zu einem ihrer Feste einladen, nächste Woche. Ich überbringe hiermit die Aufforderung von Hamok Trei. Sie möchten, daß wir alle kommen; und sie wollen ihre ältesten Weinkrüge kredenzen und die besten ihrer Fleischtiere schlachten. Es gilt, den Ehrentag ihres Gottes Nakhaba zu feiern, der der höchste unter ihren Göttern ist, wie ich glaube.“