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Ruhelos durchstreifte sie die Siedlung. Sie schlief beinahe nicht mehr, sondern wanderte weit in die Nacht hinaus, trieb mit verwirrtem Kopf von einem Haus zum anderen. Manchmal stellte sie sich vor, sie sei ihr eigenes Gespenst und schwebe gewichtslos, schwerelos, unsichtbar und stumm dahin. Doch der Schmerz blieb ihr stets getreulich nahe und mahnte sie an die Bürden ihres Fleisches.

Sie hatte zu keinem ein weiteres Wort über einen Auszug aus Vengiboneeza gesagt. Es war ja auch nur eine List gewesen, um Torlyri die Wahrheit zu entlocken, ob sie denn mitgehen oder bleiben würde; und da Koshmar nun diese Wahrheit erfahren hatte — denn sie war sicher, daß Torlyri ihren Behelmten niemals aufgeben würde —, brachte sie es nicht über sich, den Befehl zum Auszug zu erteilen. Hresh hatte das Thema ihr gegenüber nicht wieder angeschnitten, auch Torlyri nicht. Der Plan ruhte in nebliger Schwebe. Macht mein Kranksein mich so unfähig schwach, die Organisation unseres Auszugs anzugehen? fragte sie sich. Oder liegt es einzig daran, daß ich weiß, er bedeutet das Ende für meine Liebe zu Torlyri, und ich bringe das nicht über mich?

Sie vermochte nicht zu sagen, was von beidem zutraf. Ihre persönliche kummervolle Depression war hoffnungslos verstrickt in ihre öffentlichen Pflichten. Sie war so müde, müde, müde, so zutiefst beunruhigt, so tief verwirrt. Sie konnte nichts weiter tun, als abwarten und hoffen, die Zeit werde alles so oder so wenden. Vielleicht wich diese Krankheit von ihr, und ihre Kraft würde wiederkehren. Oder Torlyri mochte ihrer betörten Liebe zu diesem Beng überdrüssig werden. Die Zeit ist meine einzige Verbündete.

Plötzlich stach ihr Helle ins Auge. Ein vereinzelter Lichtstrahl drang aus einem der unbenutzten Gebäude am gegenüberliegenden Ende des Platzes am Südrand der Siedlung. Dann war auf einmal wieder alles dunkel, als sei hastig eine Blende geschlossen worden. Koshmar runzelte die Stirn. Dort drüben hatte keiner etwas zu suchen, schon gar nicht zu dieser nächtlichen Stunde. Das ganze Volk lag im Schlaf, außer Barnak, der Wachdienst hatte, und ihn hatte Koshmar gerade vor einer kurzen Weile den Nordrand der Siedlung kontrollieren sehen.

Sie machte sich auf, um die Sache zu untersuchen; vielleicht hatte sich ein Trupp von Bengspionen eingeschlichen und verbarg sich hier mitten im Gebiet des Volkes. Was waren diese Beng doch für ärgerliche Störenfriede! Sie hatte ihnen nie vertraut, trotz all ihres Lächelns und all ihrer Feste. Sie hatten ihr Torlyri gestohlen. Bald würde ihnen auch Vengiboneeza gehören. Dawinno lasse ihnen die Hoden verdorren!

Das Gebäude war einstöckig und hatte fünf Seiten und war aus leicht rosigem Stein, der so glatt war wie Metall, oder vielleicht handelte es sich um ein Metall mit der Textur von glattem Stein. In jede der fünf Fronten war ein dreieckiges Fenster geschnitten, das von musselinfeinen Gazeplanen verdeckt war, die jedoch fest wie Holz waren. Koshmar drückte sacht gegen eine von ihnen. Sie gab nicht nach. Sie trat an ein anderes Fenster und drückte kräftiger. Die Markise gab nur einen kleinen Spalt breit nach, aber genug, einen gelben Lichtstrahl durchzulassen. Sie hielt den Atem an und öffnete die Blende etwas weiter, dann beugte sie sich vor und spähte hinein.

Sie blickte in einen vertieften Raum, dessen Boden unterhalb des Niveaus des Platzes lag. Das blakende Licht von Talglampen stellte die einzige Beleuchtung dar. In der Raummitte stand eine aus weiß em Stein gehauene Statue, eine hohe langgliedrige, kantige, schlanke Gestalt mit einem hohen Kuppelschädel, jedoch ganz ohne Sensororgan: allem Anschein nach war es ein Abbild von Ryyig, dem Träumeträumer. Um die Statue waren belaubte Baumzweige angeordnet, aufgehäufte Früchte, einige kleine Tiere in Flechtkörben. Neben diesen Opfergaben kauerten mit gesenkten Köpfen fünf Angehörige des Volkes und flüsterten leise vor sich hin. In dem trüben Licht konnte Koshmar Haniman erkennen, Kreun, Cheysz und Delim. Und die dort, mit dem Rücken zum Fenster, war das Preyne? Nein, Jalmud war es, ja Jalmud.

Mit wachsender Bestürzung betrachtete Koshmar die Szene, und bald überkamen sie Schock und Abscheu. Sie vermochte nicht zu hören, was dort drin gesagt wurde, die Stimmen waren zu leise, doch schienen sie irgendwelche Gebete zu murmeln. Ab und zu schob einer der Kauernden ein Zweigbündel oder Früchte näher auf die Statue des Träumeträumers zu. Cheysz hatte den Kopf fest auf den nackten Boden des Gemachs gepreßt; auch Kreun kauerte tiefgebückt, während Haniman in einer schaukelnden Bewegung vor und zurückwippte, die einen beinahe hypnotischen Rhythmus besaß. Er schien der Anführer zu sein, der Vorbeter: er sprach, und die anderen wiederholten seine Worte.

Als sie sich endlich loszureißen vermochte, rannte Koshmar zum Tempel zurück. Mit wild pochendem Herzen stürzte sie zu Hreshs Gemach und hämmerte gegen seine Tür.

„Hresh! Hresh! Wach auf! Ich bin’s, Koshmar!“

Er spähte durch den Türspalt. „Ich arbeite über den Chroniken.“

„Die können warten. Komm sofort mit mir! Da ist etwas, das du unbedingt sehen mußt.“

Gemeinsam eilten sie über den Platz. Barnak, dem schließlich Koshmars hastiges Gerenne doch aufgefallen war, tauchte von irgendwoher auf und unternahm halbherzig Nachforschungen, doch sie wies ihn mit einer heftigen Handbewegung zurück. Je weniger aus dem Volk diese Sache zu Gesicht bekamen, desto besser. Dann führte sie Hresh an den fünfseitigen Bau, bedeutete ihm, er solle schweigen, und zog ihn an das Fenster, dessen Sichtschirm sie spaltbreit geöffnet hatte. Er spähte angestrengt hinein; nach einem Augenblick packte er in plötzlicher Erregung den Sims, zog sich höher und schob den Kopf fast durch das Fenster hinein. Als er wenig später wieder zurücktrat, waren seine Augen vor Erstaunen weit aufgerissen und sein Atem ging heftig und stoßweise.

„Nun? Was glaubst du, was die da drin treiben?“

„Mir scheint, es handelt sich um eine Art religiöses Ritual.“

Koshmar nickte kräftig zustimmend. „Genau! Ganz richtig! Aber welchen Gott verehren die da drinnen?“

„Gar keinen Gott“, sagte Hresh. „Die Statue da ist das Abbild eines Menschen — eines Träumeträumers.“

„Eines Träumeträumers, genau. Sie erweisen einem Träumeträumer göttliche Ehren, Hresh! Was soll das denn? Was für eine neue Religion ist da erwachsen?“

Wie in Trance sprach Hresh: „Sie halten die Menschlichen für Götter — sie beten zu den Menschen.“

„Den Träumeträumern. Wir sind die Menschen, Hresh.“

Hresh zuckte die Achseln. „Wie du willst. Aber ich glaube, diese fünf da drin denken etwas anders darüber.“

„Ja“, sagte Koshmar. „Sie sind bereit, sich in Affen zu verwandeln, genau wie es bei dir der Fall zu sein scheint. Und sie wollen niederknien und dieses uralte Stück Stein anbeten.“ Plötzlich tat Koshmar ein paar Schritte beiseite, setzte sich nieder und ließ verzweifelt den Kopf auf die gekreuzten Arme sinken. „Ach, Hresh, Hresh, wie unrecht tat ich, nicht auf dich zu hören! Wir verlieren unsere Menschenhaftigkeit hier in Vengiboneeza. Wir verlieren uns selbst, Hresh. Wir verkommen zu Tieren. Ich zweifle nun nicht mehr daran, daß du recht hattest. Wir müssen diesen Ort sofort verlassen.“

„Koshmar.“

„Sofort! Ich werde es am Morgen verkünden. Wir packen zusammen und ziehen fort, in zwei Wochen, oder auch weniger. Ehe sich dieses Gift noch weiter unter uns ausbreiten kann.“ Unsicher erhob sie sich. Und mit so fester Stimme, wie es ihr möglich war, setzte sie hinzu: „Und schweige über das, was du gesehen hast, allen gegenüber!“