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„Was meinst du, Mutter? Ist heute der Tag?“

Minbain lachte leise. „Heute? Nein, Hresh, nein, noch nicht. Heute noch nicht, Hresh.“

Als Hresh nämlich Koshmars Erklärung gehört hatte, in der sie sagte: „Der Tag ist gekommen, an dem wir hinausziehen.“, da hatte er doch tatsächlich geglaubt, das Volk werde am selbigen Tag losziehen. Aber das war natürlich nicht möglich. Zunächst mußte man die Totenfeier für den dahingegangenen alten Träumeträumer abhalten, und dies war ein Ereignis voll Großer Zeremonial- und Mysteriengewalt. Niemand wußte so recht, welches Ritual beim Tode eines Träumeträumers nun wirklich das rechte sei — irgendwie erschien es nicht als passend, ihn einfach hinauszubringen und zu den übrigen Gebeinen unten am Hang zu werfen —, doch schließlich hatte Thaggoran eine relevante Stelle in den Chroniken entdeckt (oder doch behauptet, er habe so etwas gefunden), und das Zeremoniell erforderte eine Menge Gesang und Gebete und einen Fackelzug durch die niederen Kammern bis zur Kammer Yissous, wo dann der Leichnam unter einem Grabhügel aus blauem Felsgestein zur Ruhe gebettet wurde. Für das Ganze waren mehrere Tage bei den Vorbereitungen und der Durchführung verstrichen. Und danach mußten die Dekonsekrationsrituale des Kokons durchgeführt werden, auf daß das Volk auf dem langen Marsch, der ihm bevorstand, nicht gar seine Seele zurücklasse. Sodann das Verpacken all der geheiligten Gegenstände; dann die Schlachtung des Großteils der Fleisch spendenden Tiere des Stammes und das Räuchern und Pökeln der Stücke; und danach würde man allen brauchbaren Besitz in Bündel verschnüren müssen, die leicht genug waren, getragen zu werden. und dann — und dann — kam noch dieses Ritual und jenes, diese notwendige Aufgabe und jene — und alles den Vorschriften entsprechend, die Tausende von Jahren alt waren. Ach, es würde noch viele, viele Tage länger dauern, das wußte Minbain, ehe der Große Auszug wirklich beginnen konnte. Und schon konnte man ja wirklich die Eisfresser direkt unter dem Boden der Wohnkammer knabbern hören, ein stumpfes Nagegeräusch, das Nacht und Tag und Tag und Nacht unablässig weiterging. Aber jetzt mochten diese Eisfresser diesen Ort in Besitz nehmen und sich seiner freuen, soweit es möglich war. Das Volk würde in diesen Kokon niemals mehr zurückkehren. Aber schwierig war eben diese Zeit des Wartens. Und wahrscheinlich war sie für keinen vom Volk schwerer als für Hresh. Für ihn war ein Tag wie ein Mond, ein Mond wie ein Jahr. Die sprungbereite Ungeduld knisterte in dem Jungen wie ein Feuer, das sich durch trockenes Reisig frißt.

„Werden sie heute noch mehr Tiere töten?“ fragte Hresh.

„Nein, das ist alles erledigt“, beschied ihn Minbain.

„Gut. Gut so. Ich fand es abscheulich, als sie das machten.“ „Ja, das war nicht schön“, sagte Minbain. „Aber es war notwendig.“ In der Regel schlachtete man jede Woche eines oder zwei der Tiere für die Ernährung des Stammes, doch diesmal hatten Harruel und Konya ihre Klingen ergriffen und hatten stundenlang im Gehege gemetzelt, bis das Blut den Abzugskanal überflutet hatte und sogar bis in die Wohnkammer selbst geflossen war. Nur wenige Exemplare konnte man als Zuchttiere mitnehmen; die anderen mußten getötet und ihr Fleisch getrocknet, gepökelt oder geräuchert und verpackt werden, um das Volk auf seinem langen Marsch bei Kräften zu halten. Hresh hatte den Männern beim Schlachten zugeschaut. Minbain hatte ihm verboten zu gehen, ihn gewarnt, doch er hatte darauf beharrt, und dann stand er ernst dabei und sah zu, wie Harruel die Tiere packte und ihnen den Kopf in den Nacken bog, damit Konyas Messer leichter traf. Hinterher hatte der Junge stundenlang vor Entsetzen gezittert; doch Tags darauf war er wieder dabei und schaute dem Schlachten zu. Nichts was Minbain zu ihm sagte, konnte ihn davon abhalten. Hresh verwirrte sie und war ihr ein Rätsel. Das war schon immer so gewesen. Und es würde wohl weiter so sein.

„Wirst du heute wieder Fleisch einpacken?“ fragte er.

„Vielleicht. Es sei denn, Koshmar hat heute eine andere Arbeit für mich. Ich tue, was sie mir aufträgt.“

„Und wenn sie dir befiehlt, kopfunter über die Decke zu laufen?“

„Sei nicht albern, Hresh!“

„Koshmar sagt immer allen, was sie tun sollen.“

„Sie ist die Führerin“, sagte Minbain. „Sollten wir über uns selber befehlen? Es muß doch jemand da sein, der die Anordnungen trifft.“

„Aber nimm mal an, daß du das machst, statt Koshmar. Oder Torlyri. Oder Thaggoran.“

„Der Körper hat nur einen Kopf. Das Volk hat einen Führer.“

Hresh überdachte das eine Weile. „Harruel ist aber stärker als alle ändern. Wieso ist nicht er der Führer?“

„Hresh-der-Sack-voller-Fragen!“

„Ja, aber warum ist er dann nicht der Anführer?“

Mit einem nachsichtigen Lächeln antwortete Minbain: „Weil er ein Mann ist, und die Führerschaft muß bei einer Frau sein. Und weil groß und stark sein nicht die wichtigste Eigenschaften sind, die ein Führer braucht. Harruel ist ein prächtiger Krieger. Er wird unsere Feinde verjagen, wenn wir draußen sind. Aber du weißt doch, sein Gehirn arbeitet langsam. Koshmar dagegen denkt rasch.“

„Harruel denkt viel schneller, als du dir vorstellen kannst“, sagte Hresh. „Ich habe mit ihm geredet. Er denkt zwar wie ein Krieger, aber das heißt ja noch nicht, daß er überhaupt nicht denkt. Jedenfalls, ich kann viel schneller denken als Koshmar. Vielleicht sollte ich der Anführer sein.“ „Hresh!“

„Halt mich, Mutter!“ sagte er plötzlich.

Der plötzliche Stimmungsumschwung bestürzte sie. Es schüttelte ihn. Im einen Augenblick übersprudelnd auf seine Hreshart, dachte sie, und im nächsten drückt er sich fest gegen mich und ist ein kleines Angstbündel, das nach Trost und Schutz sucht. Sie fuhr ihm streichelnd über die dürren Schultern. „Minbain liebt dich“, murmelte sie. „Mueri wacht über dich und beschützt dich. Ist ja schon gut, Hresh. Alles, alles ist gut.“

Eine Stimme hinter ihr sagte: „Das arme Kerlchen Hresh. Er fürchtet sich vor dem Auszug, was? Ich kann’s ihm nicht verdenken.“

Minbain blickte sich um. Cheysz war zu ihr getreten, die kleine furchtsame Cheysz. Gestern hatten Minbain und Cheysz und noch zwei Frauen stundenlang geschuftet, um Fleisch in aus Haut gefertigte Säcke zu verstauen.

Cheysz sagte: „Du, ich hab nachgedacht, Minbain. Wo wir doch da jetzt diese ganzen Vorbereitungen auf den Auszug machen. was ist, wenn sie sich irren?“

„Was? Wer?“

„Koshmar. Thaggoran. Sich irren — und es kommt noch gar nicht der Neue Frühling.“

Minbain drückte Hresh noch fester an die Brust und bedeckte mit den Handmuscheln seine Ohren. Wütend sagte sie zu Cheysz: „Bist du verrückt geworden? Du hast nachgedacht? Denk lieber nicht, Cheysz. Koshmar denkt für uns.“

„Bitte, sieh mich doch nicht so an. Ich hab Angst.“

„Wovor?“

„Dem dort draußen. Dort draußen ist es gefährlich. Und wenn ich gar nicht gehen mag? Wir könnten in der Kälte sterben. Und es gibt wilde Tiere dort. Yissou allein mag wissen, was dort auf uns wartet, dort draußen. Mir gefällt es hier im Kokon. Wieso müssen wir denn alle fortgehen, bloß weil Koshmar es so will? Minbain, ich möchte hierble iben.“

Minbain war entsetzt. Das war zutiefst aufrührerisches Gerede. Es entsetzte sie, daß Hresh das alles mitbekam.

„Wir alle wollen hierbleiben“, sagte eine neue, eine dunkle Stimme hinter Minbain. Das war Kalide, die Mutter von Bruikkos, auch eine der Fleischpackerinnen vom Vortag. Wie Minbain war sie eine Frau über die mittleren Jahre hinaus, deren Gefährte gestorben war und die von der Züchterklasse in die der Arbeiter übergewechselt war. Sie war höchstwahrscheinlich die älteste Frau im Kokon. „Natürlich wollen wir bleiben, Cheysz. Hier drin haben wir es warm und sind in Sicherheit. Doch es ist unser Schicksal, wir müssen hinausziehen. Wir sind die Auserwählten — das Volk des Jungen Neuen Frühlings.“