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Von den Sechs Völkern fehlen einzig die Menschlichen; man sieht keine Spur von ihnen. Hresh sucht die ganze Stadt ab nach den bleichen länglichen Geschöpfen mit den düsteren Augen und den hochgewölbten Schädeln, doch nein, nein, kein einziger ist zu entdecken. Anscheinend sind sie bereits fortgegangen: die ahnungsvollen Schlauköpfe, bereits unterwegs — wohin? In die Sicherheit? Zu einem stillen Sterben anderwärts, wie es die Seeherren und die Mechanischen tun werden? Hresh vermag es nicht zu sagen. Er ist verwirrt und benommen von seiner Vision vom Ende Vengiboneezas. Er ist wie gebannt von diesen schwarzen Winden, die durch den schwarzen Himmel fegen, hypnotisiert von der feierlichen Todesmusik, von der Auswanderung der Geschöpfe der Großen Welt aus der Stadt und dem Einzug der wilden Waldbewohner in sie. Und er ist wie gelähmt durch diese unbegreifliche Hinnahme und Gleichmut, welche die Saphiräugigen einhellig zeigen, während die Endzeit über sie hereinbricht.

Und er schaut, bis er nicht länger zusehen kann. Doch bis zum Schluß beweisen die Saphiräugigen ihrem eigenen Untergang gegenüber Gleichgültigkeit.

Schließlich drückt Hresh mit zitterndem Finger den Schaltstift, und die Vision bricht ab, die Musik erstirbt. Und er sinkt, überwältigt und betäubt, auf die Knie nieder.

Er wußte, daß er gar nichts von dem begriff, was er soeben gesehen hatte.

Wie nie zuvor mahlte und brodelte es in seiner Seele von Fragen, und er hatte keine Antworten. Nicht eine einzige Antwort. Nichts. Gar nichts.

Als Koshmar sich am Morgen von ihrem Lager zu erheben versuchte, preßte sich ihr eine unsichtbare gewaltige Faust zwischen die Brüste und schleuderte sie wieder rücklings nieder. Sie war allein. Torlyri war die Nacht zuvor wieder in den Tempel gegangen, um mit dem Verpacken der Heiligtümer fortzufahren, und sie war gar nicht zurückgekommen. Ist sicher zu ihrem Beng abgehauen, dachte Koshmar. Eine Weile lag sie still da, keuchend, zuckend, rieb sich das Brustbein, unternahm aber nicht den Versuch, sich erneut zu erheben. Irgendein Feuer brannte in ihrer Brust. Mein Herz steht in Flammen, dachte sie. Oder es könnten auch die Lungen sein. Ich werde von innen her von einem Feuer verzehrt.

Vorsichtig mühte sie sich erneut, sich aufzusetzen. Diesmal stieß keine Faust sie zurück, doch ging es langsam und mühsam vonstatten, sie fröstelte und zitterte ziemlich stark und benötigte mehrere lange Pausen, in denen sie sich mit den Fingerspitzen abstützte und sich mühte, nicht wieder zurückzurutschen. Ihr war sehr kalt. Und sie war dankbar, daß Torlyri nicht hier war, sie nicht in ihrer Schwäche, ihrer Krankheit, ihrem Schmerz sehen konnte. Niemand durfte dies sehen; vor allem aber nicht Torlyri!

Vermittels des Zweiten Gesichts tastete sie sich vor ihr Haus und bemerkte dort Threyne, die mit ihrem Knaben, Thaggoran, vorbeiging. Mit brüchiger Stimme rief Koshmar sie an und stellte sich in der Tür auf, klammerte sich an den Pfosten, drückte die Schultern zurück, kämpfte darum, den Anschein zu erwecken, alles sei zum Besten bei ihr.

„Du hast mich gerufen?“ sagte Threyne.

„Ja.“ Koshmars Stimme klang rauh und zittrig, selbst für ihre eigenen Ohren. „Ich muß mit Hresh sprechen. Kannst du ihn für mich suchen und ihn mir schicken?“

„Aber gewiß, Koshmar.“

Doch Threyne zögerte und ging nicht sogleich um Koshmars Gebot auszuführen. Ihre Augen wirkten bedrückt und waren verschleiert. Sie sieht es, daß ich krank bin, dachte Koshmar. Aber sie wagt nicht, mich zu fragen, was es ist.

Koshmar blickte zu dem jungen Thaggoran. Er war ein kräftiger Knabe, langgliedrig, mit wachen Augen, aber schüchtern. Obwohl er bereits über sieben Jahre alt war, hielt er sich halb hinter seiner Mutter versteckt und lugte von dort verstohlen zu der Stammesführerin empor. Koshmar lächelte ihm zu.

„Wie groß er geworden ist, Threyne!“ rief sie mit soviel Herzlichkeit, wie sie nur konnte. „Ich erinnere mich an den Tag seiner Geburt. Wir waren damals kurz vor Vengiboneeza, nahe dem Ort des Wasserläufers, als deine Zeit über dich kam. Und wir errichteten eine Laubhütte für dich und ein Lager, und Torlyri half dir durch die Stunden der Entbindung, und Hresh kam und verlieh dem Kind seinen Geburtsnamen. Du erinnerst dich doch daran, nicht wahr?“

Threyne warf Koshmar einen seltsamen Blick zu, und diese verspürte erneut einen schmerzhaften Stich in der Brust.

Sie muß ja denken, mein Hirn ist zu Brei geworden, sagte sich Koshmar, daß ich sie fragen kann, ob sie sich an den Tag erinnert, an dem ihr Erstgeborener zur Welt kam. Sie streckte die Hand aus — und mußte sich stark anstrengen, das Zittern in ihr zu unterdrücken — und strich dem Knaben leicht über die Wange. Er zuckte vor der Berührung zurück.

„Also, dann geh“, sagte Koshmar. „Schick mir Hresh!“

Hresh kam erstaunlich lange nicht. Vielleicht buddelt er zum letztenmal in den alten Ruinen herum, dachte Koshmar. Versucht verzweifelt zu erwischen, soviel er kann, ehe der Stamm aus Vengiboneeza wegzieht. Dann fiel ihr ein, daß Hresh ja inzwischen partnerlich verehelicht war — oder doch beinahe; vielleicht also war er gerade eifrig damit beschäftigt, mit Taniane zu kopulieren oder zu tvinnern, und wollte sich einfach bei diesem Geschäft nicht gern stören lassen. Die Vorstellung von einem partnerlich verbandelten Hresh erschien ihr als seltsam, oder daß er tvinnern sollte oder all dies tun, was eben zu derlei Aktivitäten gehörte. Für Koshmar würde er immer das wilde Kerlchen bleiben, das einst versucht hatte, sich heimlich aus dem Kokon zu schleichen, an einem lang vergangenen Morgen, um sich das Flußtal anzuschauen.

Endlich kam er. Seine Augen wirkten entzündet, er sah erschöpft aus wie jemand, der überhaupt nicht geschlafen hat. Doch sobald er Koshmars ansichtig wurde, holte er tief Luft und war plötzlich hellwach, als habe ihn ihr Anblick schockiert und vollkommen munter gemacht.

„Was ist dir geschehen?“ fragte er sofort dringlich.

„Nichts. Es ist nichts. Komm herein!“

„Bist du krank?“

„Nein. Aber nicht doch!“ Koshmar schwankte und wäre fast gefallen. „Ja“, sagte sie dann, halb flüsternd. Und da sie wieder taumelte, packte Hresh sie am Arm und führte sie zu einer mit Fellen bedeckten Steinbank. Dort saß sie lange, den Kopf vornübergeneigt, und Schmerz und Fieber schoß in Wellen durch sie hindurch. Nach einiger Zeit sagte sie dann sehr ruhig: „Ich sterbe.“

„Das kann nicht sein.“

„Komm kurz in meine Seele und spüre, was ich spüre, dann weißt du die Wahrheit.“

Erregt sagte Hresh: „Laß mir Torlyri holen!“

„Nein! Nicht Torlyri!“

„Aber sie ist im Besitz der Heilkünste.“

„Als ob ich das nicht nur zu gut wüßte, Junge. Aber mir liegt nicht daran, daß sie ihre Künste an mir versucht.“

Hresh kauerte sich vor sie hin und versuchte ihr ins Gesicht zu blicken, aber sie wich seinen Augen aus.

„Koshmar, nein! Nein! Du bist noch immer stark und kräftig. Dir kann Heilung werden, wenn du es nur erlauben.“

„Nein.“

„Weiß Torlyri, wie krank du bist?“

Koshmar zuckte die Achseln. „Woher soll ich wissen, was Torlyri weiß oder nicht weiß? Sie ist eine Weise Frau. Ich habe noch zu keinem darüber gesprochen. Und ganz gewiß nicht zu ihr.“

„Wie lang schon bist du so krank?“

„Schon einige Zeit“, sagte Koshmar. „Es kam langsam über mich.“ Und nun hob sie den Kopf und gewann ein wenig von ihrer einstigen Kraft zurück. Mit lauterer Stimme sprach sie: „Doch ich habe dich nicht rufen lassen, um mit dir über meine Gesundheit zu sprechen.“

Zornig schüttelte Hresh den Kopf. „Ich kenne mich sebst auch ein wenig in den Heilkünsten aus. Wenn du nicht willst, daß Torlyri etwas davon erfährt, gut. Sie braucht überhaupt nichts davon zu wissen. Aber erlaube mir, dieses Ungesunde von dir zu treiben. Laß mich Mueri anrufen und Friit und tun, was für dich getan werden muß.“