Langsam holte Hresh die Luft in sich herein, hielt sie in den Lungen, entließ sie, atmete erneut tief. Nach einer kleinen Weile wurde das Pochen in seinem Herzen schwächer, der Sturm in seinem Hirn schien sich zu mindern. Noum om Beng nickte zufrieden. Ruhig fragte er: „Wann verlaßt ihr diese Stadt, Knabe?“
„In ein, zwei Tagen.“
„Also habt ihr hier alles herausgefunden, was zu wissen euch not tut?“
„Ich habe nichts herausgefunden“, sagte Hresh. „Nichts, gar nichts.
Ich schaufle Informationen in mich hinein, aber je mehr ich an Wissen ansammle, desto weniger verstehe ich.“
„Und so geht es mir auch“, sagte Noum om Beng sanft und leise.
„Aber, Vater, wie kannst du so etwas sagen? Du weißt doch alles, was es zu wissen geben kann!“
„Glaubst du das wirklich?“
„So will mir scheinen.“
„In Wahrheit, Junge, weiß ich sehr wenig. Nur das, was in den Chroniken meines Stammes auf mich gekommen ist und das, was ich selbst zu lernen imstande war, sowohl in meinen Irrungen und Irrwanderungen wie durch den Einsatz meines Denkens. Und es genügt nicht. Es genügt einfach nicht. Es wird nie genug sein können.“
„Vater, dies ist das letztemal, daß wir beisammen sind.“
„Ich weiß es. Ja.“
„Du hast mir so viele Dinge beigebracht. Aber alles stets umweglich, immer nur das, was hinter den Dingen, in den Dingen verschlossen liegt. Vielleicht wird die Bedeutung der Dinge in meinem Hirn knospen und aufbrechen, wenn ich älter geworden bin und über alles nachdenke, was du mir hier gesagt hast. Aber dürften wir heute, bitte, ganz direkt über jene großen Probleme sprechen, die mich verwirren? Ich flehe dich an.“
„Wir haben stets und immer sehr direkt und zielgerichtet miteinander gesprochen, Kind.“
„Mir kommt es aber nicht so vor, Vater.“
In früheren Tagen hätte dieser platte Widerspruch Hresh eine schmerzhafte Ohrfeige eingetragen. Er wartete nun auf sie, ja sie wäre ihm sogar willkommen gewesen. Doch Noum om Beng blieb weiterhin völlig bewegungslos. Nach langem, lastendem Schweigen sprach der Alte, und es klang, als rede er von einem fernen, hohen Berg herab: „Dann sage du mir, Hresh, was sind diese Dinge, die dich in Verwirrung stürzen?“
Hresh konnte sich nicht an ein einziges anderes Mal erinnern, bei dem ihn Noum om Beng bei seinem Namen genannt hätte.
Aus den Myriaden Fragen, die in seinem Denken heraufstiegen, versuchte Hresh eine auszuwählen, die wichtigste, ehe das Angebot wieder zurückgenommen werden konnte. Aber die Wahl war ihm unmöglich. Aber dann erblickte Hresh im Geiste eine graue gestaltlose See, die sich bis zum Horizont und darüber hinaus erstreckte bis hinauf zu den Sternen, eine Meeresflut, die das gesamte Universum bedeckte, eine See, die inmitten äußerster Finsternis in ihrem eigenen perlenden Licht schimmerte. Plötzlich flammte ein heller Funke über der Wasserfläche auf.
Hresh schaute Noum om Beng starr an.
„Sag du mir also, wer uns erschaffen hat, Vater.“
„Ja, aber natürlich der Schöpfer.“ „Nakhaba — ist er es, den du meinst?“
Noum om Beng lachte. Es war dieses seltsame kratzende, trockene Lachen, wie es Hresh nur ein-, oder zweimal vordem von ihm gehört hatte. „Nakhaba? Nein, Nakhaba ist ebensowenig der Schöpfer wie du oder ich. Nakhaba ist nur der Vermittler. Habe ich dir das nicht klar genug verdeutlicht?“
Hresh schüttelte den Kopf. Vermittler? Was sollte dies bedeuten?
„Nakhaba ist der größte und höchste Gott, den wir kennen können“, sagte Noum om Beng. „Aber er ist nicht der Höchste Gott von allen. Der Höchste Gott, der Schöpfer-Gott, bleibt unbekannt und ein Geheimnis, und er muß dies immer sein. Und nur die Götter kennen diesen Gott.“
„Ach so, ja, ach so“, sagte Hresh. „Und Nakhaba? Wer und was ist denn dann er?“
„Nakhaba ist der Gott, der zwischen uns und die Menschlichen tritt, der mit ihnen spricht und für uns eintritt, wenn wir den Anforderungen unseres Schicksals einmal nicht entsprochen haben.“
Hresh hatte das Gefühl, als verlöre er sich in immer fernere Unbegreiflichkeiten.
Verzweiflung, Unglaube, Verwirrung drohten ihn zu überwältigen.
„Ein Gott, der die Mittlerrolle erfüllt zwischen uns und den Menschlichen? Ja, aber dann sind die Menschlichen ja etwas Höheres als die Götter?“
„Größer als unsere Götter, Kind. Größer als Nakhaba und größer als eure Fünf. Aber nicht größer als der Schöpfer, der sie geschaffen hat, genau wie uns und wie alles andere. Begreifst du die Hierarchie, die Heilige Herrschaftsstruktur?“ Mit der Fingerspitze zeichnete Noum om Beng weite Gebilde in die Luft: Da, an der allerhöchsten Spitze den Schöpfer, dann die Großen Sechs, über die Hresh einst sich Spekulationen hingegeben hatte; und hier die Menschen, etwas weiter darunter; und dann erst Nakhaba, und hier die fünf; und da, noch tiefer, wenn auch immer noch über den wilden Tieren, endlich: die gemeine Bevölkerung der Welt, die Kokonvölker, die Behaarten und Pelzigen.
Hresh starrte stamm und ungläubig. Er hatte um Aufklärung und Erleuchtung gebeten, und Noum om Beng hatte sie ihm in großmütiger Weise zuteil werden lassen. Doch er vermochte das nicht in sich aufzunehmen, er konnte es nicht verdauen.
Er rettete sich in einen vertrauten Winkel und fragte: „Also laßt ihr auch die Fünf gelten? Sie sind Götter für euch, genau wie für uns?“
„Aber gewiß sind sie das. Wir benennen sie zwar mit anderen Namen, aber wir lassen sie gelten; und wie könnten wir auch anders? Es muß doch einen Gott geben, der die Leute beschützt, und einen, der sie erhält, und einen, der sie zerstört. Und einen, der heilt und einen, der Trost bringt. Und natürlich einen, der vermittelt und ausgleicht.“
„Ein vermittelnder, ausgleichender Gott? Ja, das ist sinnvoll.“
„Und dies ist der eine Gott, den ihr vergessen habt. Er steht über den anderen Fünfen, und er reicht in weit höhere Regionen hinauf und spricht dort zu unserm Wohl mit Jenen.“
„Also sind die Menschlichen Götter?“
„Nein. Nein, das glaube ich eigentlich nicht“, sagte Noum om Beng. „Doch wer könnte das genau sagen? Nur Nakhaba hat jemals einen Menschen gesehen.“
„Oh, ich glaube, ich auch“, sagte Hresh.
Noum om Beng gab wieder dieses rauhe Kichern von sich. „Das ist wohl ziemlich verrückt, mein Kleiner.“
„Nein. Es gab da in unserm Kokon in den Tagen des Langen Winters einen, der immer schlief, der ganz allein in einer Wiege, einer Krippe, in der Hauptkammer lag. Man nannte ihn Ryyig, den Träumeträumer. Er war sehr lang und sehr blaß und rosa, und er hatte überhaupt kein Fell auf dem Leib, und sein Kopf stieg hoch über seiner Stirn empor, und seine Augen waren purpurblau und leuchteten seltsam. Sie sagten, er habe stets unter uns gelebt, und daß er am ersten Tag des Langen Winter zu uns in den Kokon gekommen sei, als die tödlichen Sterne niederzufallen begannen, und daß er schlafen werde, bis zum Ende des Winters; dann sollte er erwachen und seine Augen auftun und uns die Weissagung erteilen, daß wir nun hinausziehen müßten in die weite Welt. Und dann würde er sterben. So ward es geweissagt, vor langer Zeit, und so steht es geschrieben in den Büchern unserer Chronik. Und alles dies hat sich wahrlich dann so ereignet, Vater. Ich habe ihn gesehen. Ich war zugegen am Tag, an dem er erwachte.“
Noum om Beng starrte ihn mit seltsam saugendem-haftendem Blick an. Sein Gesicht war ganz erstarrt, die roten Augen leuchteten. Der harte Atem des alten Mannes schien immer lauter und lauter zu gehen, bis er klang wie das Schnaufen eines herannahenden Tieres.
Hresh sagte: „Ich glaube, unser Träumeträumer war ein Menschlicher. Ein Mensch. Daß er zu uns gesandt war, um mit uns zu leben und über uns zu wachen während der ganzen Zeit des Langen Winters. Und daß dann, als der Winter vorbei war, seine Aufgabe erfüllt war und er zu den Seinen berufen wurde.“