„Ja“, sagte Noum om Beng. Er bebte, wie eine überstraff gespannte Bogensehne. „So muß es geschehen sein, und wieso habe ich es nicht erkannt? Junge, soll ich dir etwas sagen? Auch wir hatten in unserem Kokon einen Träumeträumer. Wir waren uns nicht im geringsten bewußt, was für ein Geschöpf er sein mochte, aber wir hatten so einen bei uns, genau wie ihr. Das war vor langer Zeit, ehe ich geboren war, falls du dir eine so lange Zeit vorstellen kannst. Und wir hatten auch das, was du deinen Barak Dayir nennst. Es gibt in unseren Geschichtsbüchern Berichte davon. Doch unser Träumeträumer erwachte zu früh, während noch das Eis die Welt umklammert hielt. Und er führte uns aus dem Kokon, und er ging dabei zugrunde, und unser Barak Dayir wurde uns von den Hjjk geraubt. Nakhaba führte und leitete uns gut, und wir gelangten zu Größe, trotz unseres Verlustes, und Größeres sollte noch folgen: Denn, Junge, soviel erkenne ich mit Klarsicht, die ganze Welt wird bengisch sein. Jedoch unser Los und unsere Aufgabe war um so vieles schwerer, weil wir in den letzten Jahren ohne einen Barak Dayir auskommen mußten. Während euer Volk — während du, mein Sohn — dieses magische Ding besitzt.“
Noum om Bengs Stimme versank in ein Flüstern. Er blickte starr zu Boden.
„Ja? Und? Was ist die Bestimmung meines Volkes?“
„Wer weiß das schon?“ sagte der alte Behelmte. Er klang auf einmal sehr erschöpft. „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich weiß es nicht einmal Nakhaba. Wer vermag schon im Buch des Schicksals zu lesen? Ich. ich sehe unser eigenes Geschick — das eure ist mir nicht deutlich.“ Er schüttelte den Kopf. „Nie hätte ich gedacht, daß unser Träumeträumer einer von den Menschlichen hätte sein können, doch jetzt erkenne ich, daß deine Vermutung recht überzeugend klingt und viel für sich hat. Ja, das war er wohl, ein Menschlicher.“
„Ich weiß, daß er ein Mensch war, Vater.“
„Woher könntest du dies sicher wissen?“
„Durch eine Vision, die mir wurde, als ich eine Maschine benutzte, die ich in Vengiboneeza fand und die mir die Große Welt zeigte. Sie ließ mich sehen die Saphiräugigen und Vegetalischen und alle die übrigen Rassen. Und sie zeigte mir auch die Menschlichen — die Menschen, wie sie hier durch eben diese Straßen schritten. und sie sahen genauso aus wie unser Träumeträumer, der Ryyig hieß.“
„Wenn dem so ist, dann verstehe ich nun viele Dinge, die mir bisher unerklärlich waren“, sagte Noum om Beng.
Dies aber verblüffte Hresh, daß er es sein sollte, dem Noum om Beng Wissen zu vermitteln, und nicht umgekehrt. Jedoch, er blieb weiterhin verwirrt und saß stumm und zitternd da.
Noum om Beng sprach: „Hüte deinen Stein gut, Junge! Wenn du in Gefahr gerätst, verschlucke ihn. Er ist unendlich wichtig. Wir mußten doppelt so schwer ringen, wenn nicht mehr, um unsere Größe zu erlangen, weil wir mit unserem Stein sorglos umgingen.“
„Aber was ist der Barak Dayir dann? Ich vernahm, er sei etwas, das in den Sternen gemacht wurde.“
„Nein. Er ist ein Menschending“, sagte Noum om Beng. „Mehr kann ich dir dazu nicht sagen. Etwas, viel älter als sogar die Große Welt. Ein Ding, das die Menschen gemacht haben, so erkenne ich nunmehr, und das sie uns schenkten, damit wir es auf vielfältige Art benutzen. Aber, auf welche Art, das habe ich niemals herausgefunden, und du beginnst gerade erst, dies herauszufinden zu versuchen.“
Hresh griff nach dem Amulett des Thaggoran an seinem Hals, denn er fühlte sich von gewaltiger Spannung und Furcht bedrückt. Doch dann erinnerte er sich, daß er den Talisman ja Koshmar geschenkt hatte, damit sie leichter durch ihre Sterbesrunden gleiten möge.
Er sagte: „Ach, Vater, ich wünschte, wir würden nicht so früh aus Vengiboneeza fortziehen.“
„Warum? Die Welt steht wartend für euch offen.“
„Ich möchte aber hierbleiben, bei dir, und ich möchte alles von dir lernen, was du mich lehren kannst.“
Und wieder lachte Noum om Beng. Ohne Warnung hob sich der stengeldürre Arm, und er versetzte Hresh mit der flachen Hand einen Schlag, der ihm die Lippe aufriß und die Wange taub werden ließ.
„Dies ist alles, was ich dir beibringen kann, mein Kind!“
Hresh leckte einen süßlichen Blutstropfen an der Unterlippe fort. Leise fragte er: „So soll ich denn jetzt von dir gehen? Ist dies dein Wunsch?“
„Ach, du kannst gern bleiben, solange du magst.“
„Aber du wirst mir keine Fragen mehr beantworten?“
„Ah, du hast also noch weitere Fragen?“
Hresh nickte, sagte aber nichts.
„Also, dann zögere nicht, frage!“
„Ich ermüde dich vielleicht, Vater.“
„So frag schon. Frag! Was du willst, mein Kleiner.“
Zögernd sprach Hresh: „Du hast mir einmal gesagt, daß die Götter all unser Mühen damit belohnen, daß sie die Todessterne über uns herabsenden, so daß also alles ganz ohne Sinn ist. Ich nannte dies einen Schwachpunkt, einen Makel im Universum, du aber sagtest: nein, nein, das Universum ist vollkommen — vielmehr sind wir es, die voll Makel und Fehler sind. Aber mir will immer noch scheinen, daß das ein Makel im Universum ist. Und du sagtest auch, daß wir uns trotzdem strebend weiter bemühen müßten, auch wenn du nicht sagen könntest, warum. Du sagtest, ich müßte das selbst herausfinden und wenn ich es getan hätte, sollte ich zu dir kommen und dir berichten, was ich erfahren hätte. Weißt du noch, Vater?“
„Ja, mein Sohn.“
„Vor nicht langer Zeit erfuhr ich eine weitere Vision der Großen Welt. Ich benutzte dafür ein anderes Gerät als das, welches mir die Menschlichen gezeigt hatten. Und diese neue Vision, Vater, die war erst heute nacht. Was ich schaute, war der letzte Tag der Großen Welt, als der erste der Todessterne kam und der Himmel sich schwarz verfinsterte, und als die Luft eisig wurde. Die Menschlichen waren bereits fort — ich könnte dir nicht sagen, wohin sie gezogen sind; und die Hjjks strebten den Bergen zu; und die Vegetalischen starben vor sich hin; und die Seeherren standen kurz vor dem Tod; und die Mechanischen machten sich auf und zogen irgendwohin, um dort zu sterben. Aber die Saphiräugigen — obwohl sie genau wußten, daß das Ende ihrer Zeit gekommen war — blieben ganz unbeeindruckt von alledem, was rings um sie sich ereignete. Sie zeigten weder Furcht noch Kummer. Und sie unternahmen auch nicht den leisesten Versuch, die niederstürzenden Todessterne von der Welt abzulenken, obwohl dies doch sicherlich in ihrer Macht gelegen hätte. Und das begreife ich nicht, Vater, ich kann es nicht verstehen! Wenn ich verstehen könnte, warum die Saphiräugigen ihre Vernichtung in scheinbarer Sorglosigkeit und so gleichmütig hinnahmen, dann könnte ich vielleicht auch sagen, warum wir ewiglich vorwärtsstreben müssen, auch wenn die Götter eines Tages alles vernichten werden, was wir aufgebaut haben.“
Noum om Beng sagte: „Wie lautete noch der Name, den ihr eurem Gott gebt, welcher der Zerstörer ist?“
Hresh blinzelte überrascht. „Dawinno.“
„Dawinno. Nun, und was verstehst du unter Dawinno? Glaubst du, er ist ein böser Gott?“
„Wie könnte ein Gott böse sein, Vater?“
„Du hast deine eigene Frage beantwortet, Sohn.“
Hresh fand nicht, daß er dies getan habe. Immer noch blinzelnd, hockte er da und wartete auf weitere Erleuchtung. Doch es ward ihm keine. Noum om Beng lächelte ihn freundlich und beinahe selbstgefällig an, als sei er sicher, Hresh die Lösung für alle seine drückenden Probleme an die Hand gegeben zu haben.
Doch unter dem Lächeln war das Gesicht des alten Behelmten aschgrau vor Erschöpfung; und Hresh selbst spürte, daß seine Hirnkapazität bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit angespannt war. Er wagte es nicht, nach weiteren Erklärungen zu fragen. Nein, hier mach ich Schluß, sagte er sich. Schon jetzt hatte er sich dermaßen viel auf die Seele geladen, daß er Jahre brauchen würde, um dies alles zu begreifen. So schien es ihm jedenfalls.