„Torlyri.“
„Nicht. Alles ist sehr klar und einfach — für mich.“
„Ja. Ja, ich verstehe schon. Aber es wird schwer werden, ohne dich.“
„Glaubst du, es wird für mich leicht sein, ohne euch alle?“ Sie lächelte und winkte ihn zu sich, und er kam in ihre Arme. Sie umarmten einander wie Mutter und Sohn — oder vielleicht gar wie Liebende — und hielten sich lange eng umschlungen. Sie begann wieder zu schluchzen, brach aber wieder ab, gerade rechtzeitig, denn im nächsten Augenblick hätte auch Hresh zu weinen begonnen.
Sie ließ ihn los und bat: „Laß mich jetzt eine Weile mit Koshmar allein. Dann müssen wir uns zusammensetzen und das nötige Ritual ausarbeiten. Im Tempel, in zwei Stunden. Du wirst dort sein?“
„Im Tempel, ja. In zwei Stunden.“
Wieder verließ er das Häuschen. Weit drüben am anderen Ende des Platzes stand Taniane inmitten einer Gruppe von fünfzehn, zwanzig Stammesangehörigen. Sie standen dicht um sie geschart und dennoch gleichzeitig in achtungsvoller Distanz, als scheuten sie vor der Glut zurück, die durch ihre plötzliche Erhöhung von Taniane ausging. Sie trug noch immer Koshmars Maske. Der ganze Platz war nun von scharfem starkem Mittagslicht besonnt, das sämtliche Schatten schluckte, und die Hitze schien noch wachsen zu wollen. Hinter ihm lag Koshmar auf ihrem Totenbett, und Torlyri kniete bei ihr, vom Gram niedergedrückt. Hresh spähte nach links und sah vier Zinnobären über die Straße auf die Siedlung zustapfen; Trei Husathirn ritt auf dem vordersten männlichen Tier. Morgen werden wir hier fortziehen, dachte Hresh, und ich werde Koshmar niemals wiedersehen, und niemals mehr Torlyri, oder Noum om Beng, oder die Türme von Vengiboneeza. Doch irgendwie schien ihm dies alles richtig zu sein. Er war über seine Erschöpfung hinweg zu einem Zustand äußerster Ruhe und Gelassenheit vorgestoßen.
Er begab sich in sein Zimmer. Dort nahm er den Barak Dayir aus dem Beutel, streichelte ihn und liebkoste ihn und flehte ihn an, er möge ihm Stärke verleihen. Ein Menschending, das war der Wunderstein also. Kein Ding von den Sternen. Das hatte Noum om Beng gesagt. Und älter als die Große Welt war der Stein.
Hresh betrachtete ihn eindringlich. Er versuchte die Zeichen für sein gewaltiges Alter aus dem Schimmern herauszulesen, aus dem Muster der komplizierten verschlungenen eingekerbten Linien, aus dem warmen Glühen des ihm innewohnenden Lichtes. Er legte sein Sensororgan daran, und die Musik des Steines wuchs um ihn herum empor wie eine Säule. Leicht und geschmeidig trug sie sein Bewußtsein aufwärts und hinauf und er konnte alles schauen, was rings um Vengiboneeza lag. Und er blickte hierhin und blickte dorthin, und zuerst war ihm alles ein Wunder und wundersames Rätsel, doch lernte er rasch, seine Verwunderung zu beherrschen, indem er nur immer auf einen Teilbereich des wunderbaren überwältigenden Ganzen blickte; daraufhin nämlich gelang es ihm, eine Bedeutung in dem Geschauten zu erkennen. Er blickte gen Süden und sah den Rand eines vollkommenen Kreises auf einer weiten Grasebene sich erheben, und in diesem Rund erblickte er eine kleine Siedlung. Er sah Harruel in dieser Siedlung und seine Mutter, Minbain, und Samnibolon, der sein Halbbruder war, und er sah auch alle die anderen, die am Tage der Spaltung mit Harruel gezogen waren. Und dies war ihre Siedlung, die sie Yissou City genannt hatten. Dies alles wußte Hresh, indem er mit der Hilfe des Barak Dayir schaute. Sodann blickte Hresh in die andere Richtung, weit gen Norden hinauf, zu jenem Ort, von dem er wußte, dort müsse er spähen, um zu erkennen, was zu sehen ihm bestimmt war, und wahrlich, er schaute eine gewaltige Herde von Zinnobären in Bewegung, nach Süden drängend, und sie ließen die Erde erbeben, als rüttelten die Götter an ihren Festen; und bei den Zinnobären waren Leute vom Hjjk-Volk, eine unzählbare große Heerschar von ihnen, die gleichfalls südwärts zogen, und zwar auf einem Treck, der sie unweigerlich zu dem Ort und der Stelle von Yissou City führen mußte. Hresh nickte. Natürlich, dachte er, die Götter, die über uns herrschen, haben beschlossen, daß dieses so kommen soll, und wer dürfte hoffen, den Willen der Götter zu begreifen? Die Hjjk sind auf dem Marsch, und Harruels Siedlung liegt auf ihrem Weg. Schön und gut. Jaja. Damit war eigentlich nur zu rechnen gewesen.
Er stieg von den Höhen wieder herab und nahm sein Sensororgan von dem Barak Dayir; und dann saß er nur still eine Weile da und dachte bei sich, was für ein langer Tag dies doch sei, und daß er noch kaum seine Mitte überschritten habe. Dann schloß Hresh die Augen, und der Schlaf traf ihn scharf wie ein niederfallendes Schwert.
In so vielen Visionen hatte Salaman inzwischen den Überfall auf Yissou City gesehen, daß das tatsächliche Ereignis, als es dann wirklich über die Stadt hereinbrach, ihm als übermäßig bekannt erschien und zunächst in seiner Brust kaum Gefühle auslöste. Seit dem plötzlichen Überfall jener kleinen Hjjk-Vorhut, jener unseligen Bande von Kundschaftern, waren einige Wochen verstrichen; und Salaman war seit jenem Kampftag regelmäßig, Tag um Tag, mit Weiawala und Thaloin auf den Hochkamm hinaufgestiegen, um dort mit ihnen zu tvinnern und sein Bewußtsein auszuschicken, so daß er sich über das Vorrücken der heranziehenden Heerscharen unterrichten könne. Und nun waren sie fast schon da; und jetzt konnte man sie auch ohne die Hilfe des Zweiten Gesichtes sehen.
Bruikkos erspähte sie als erster — denn in letzter Zeit hatte Harruel Posten auf dem Kraterrand aufgestellt, die Tag und Nacht Ausschau hielten.
„Hjjks!“ schrie Bruikkos und kam kopfüber auf dem Kraterpfad in die Stadt gestürzt. „Da kommen sie! Es sind Millionen!“
Salaman nickte. Es war ihm, als brenne ein eisiger Stein in seiner Brust. Aber eigentlich fühlte er nichts: keine Furcht, keine Kampfeslust, keinen Stolz, daß seine Prophezeiung sich erfüllt habe. Nichts, einfach nur nichts. Er hatte diesen Augenblick schon viel zu viele Male vorher durchlebt.
Weiawala klammerte sich zitternd an ihn und klagte: „Was wird mit uns sein? Werden wir allesamt sterben müssen, Salaman?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, Liebste. Jeder von uns wird zehntausendmal tausend Hjjks töten, und die Stadt wird gerettet werden.“ Seine Stimme klang gleichgültig und gefühllos. „Wo ist mein Speer? Und schenke mir Wein ein, süße Weiawala. Wein bewirkt, daß Harruel besser kämpft; vielleicht wirkt er auch auf mich so.“
„Die Hjjks!“ kam von draußen heiseres Gebrüll. Bruikkos schlug gegen Türen und hämmerte gegen Wände. „Die Hjjk nahen! Sie sind da! Sie sind schon da!“
Salaman trank einen mächtigen Schluck des dunklen kühlen Weines, umgürtete seine Lenden mit seinem Schwert und griff nach seinem Speer. Auch Weiawala bewaffnete sich: es gab an diesem Tag keinen, der nicht kämpfen würde — außer den ganz kleinen Kindern, die man an einen Ort abseits gebracht hatte, wo sie aufeinander achthaben sollten. Seite an Seite verließen Salaman und Weiawala ihr kleines Haus.
Es war ein Tag mit einem kalten Hauch in der Luft, der erste solche, nach einer langen Periode mit feuchtwarmem Wetter. Aus dem Norden blies ein kräftiger Wind. Er trug einen Geruch von trockener Schärfe mit sich, den Hjjk-Geruch, beklemmend und aufdringlich, einen Geruch nach altem Wachs und rostendem Metall und toten zerbröselnden Blättern; und unter diesem stechenden Geruch lagerte ein weiterer, üppig, schwer und voll, der satte Moschusduft von Zinnobären, in den der Hjjk-Geruch verwoben war, wie scharfe scharlachrote Metallfäden grell in eine schwere Wolldecke gewirkt.
Harruel kam in voller Wehr und Rüstung aus seinem halbniedergebrannten Palast gehumpelt. Seit dem ersten Hjjk-Überfall hatte Harruel es sich angelegen sein lassen, stets und überall hin in dieser klobigunbeholfenen Manier eines im Kampf verwundeten Helden zu wanken; soweit allerdings Salaman wußte, war die einzige Verwundung, die Harruel abbekommen hatte, an seinem Oberarm gewesen. Und die Wunde war schlimm genug gewesen; doch Minbain hatte sie mit Kräutern und heißen Breiumschlägen gut behandelt, so daß die Wunde inzwischen zu einer gezackten roten Narbe in Harruels dichtem Pelz verheilt war.