„Er wollte sterben“, sagte Minbain.
Hresh wandte sich seiner Mutter zu. „Das glaubst du?“
„Die Götter gönnten ihm keinen Frieden mehr. Er lebte in beständiger Pein.“
„Aber in seiner letzten Stunde strahlte er“, sagte Salaman. „Ich habe sein Gesicht gesehen. Es ging ein Leuchten von ihm aus. Was immer an Schmerz ihn gequält haben mochte, es war von ihm genommen in seinem letzten Augenblick.“
„Mueri mache es seiner Seele leicht“, murmelte Hresh.
Salaman zeigte auf die Stadt. „Werdet ihr eine Weile bei uns bleiben?“
„Ich glaube, nein“, antwortete Hresh. „Wir wollen heute abend mit euch ein Fest feiern. Doch danach wollen wir weiterwandern. Hier ist eure Stadt und Stätte. Wir dürfen euch hier nicht lange zur Last fallen. Taniane führt uns gen Süden, und wir werden uns dort einen eigenen Platz suchen, bis wir wissen, wohin die Götter uns als nächstes bringen wollen.“
„Also ist Taniane euer Häuptling“, sagte Salaman erstaunt. „Nun, das war ja wohl immer ihr Traum. Wie ist Koshmar gestorben?“
„Sie starb an ihrer Trauer, glaube ich. Und an Überdruß. Aber sie starb auch, weil sie erkannt hatte, daß ihre Aufgabe erfüllt war. Koshmar lebte als eine Edelin, und sie starb als eine Edle. Sie führte uns aus dem Kokon nach Vengiboneeza, und sie sandte uns von dort weiter zu unserem neuen Ziel, wie die Götter es ihr bestimmt hatten. Sie war ihnen eine getreue Dienerin. Ihnen und dem Volk.“
„Und Torlyri? Ist etwa auch sie tot?“
„Die Götter mögen es verhüten!“ sagte Hresh. „Sie blieb aus freien Stücken zurück, um unter den Beng zu leben. Sie ist nun eine Beng, sagte sie. Als ich sie zuletzt sah, hatte sie einen Helm auf, kannst du dir so was vorstellen? Die Liebe hat sie völlig verändert.“ Er lachte. „Ich glaube, sie wird sogar noch rote Augen bekommen — wie die Beng.“
Minbain trat nahe an ihn heran. „Und du, Hresh — was wirst du tun? Wenn du tun wolltest, was mir Freude macht, dann bleibst auch du zurück. Lebe hier unter uns. Willst du das tun? Hier ist ein guter Ort.“
„Und meinen Stamm im Stich lassen, Mutter?“
„Nein. Ihr allesamt sollt bleiben! Das Volk soll wiedervereint sein!“
Hresh schüttelte den Kopf. „Nein, Mutter. Die Stämme dürfen nicht wieder zusammengefügt werden. Ihr alle seid nun Harruels Volk und habt euer eigenes Schicksal. Was dies sein wird, vermag ich nicht zu sagen. Ich aber werde Taniane folgen, und wir werden gen Süden ziehen. Auf uns warten große Aufgaben. Die ganze Welt wartet dort auf uns, damit wir sie entdecken und erobern. Und außerdem gibt es noch sehr vieles, was ich erlernen will.“
„Ach, mein Hresh-voller-Fragen!“
„Immer, Mutter. Und immer dein.“
„Aber dann werde ich dich niemals mehr wiedersehen?“
„Wir haben doch schon einmal geglaubt, wir hätten uns für immer getrennt, und siehe, hier stehen wir beieinander. Ich glaube, Mutter, ich werde dich noch einmal wiedersehen. Auch meinen Bruder, Samnibolon. Doch wer kann wissen, wann das geschehen wird? Einzig die Götter.“
Dann entzog sich Hresh ihnen und wanderte beiseite, um eine Weile für sich zu sein, ehe das Festen und Schmausen begann.
Dies war ein merkwürdiger, ein des Merkens würdiger Tag, dachte er; aber schließlich war ja jeder Tag seltsam und merkwürdig — seit jenem ersten seltsamen Tag vor langer Zeit, als ich es mir in den Kopf setzte, aus dem Kokon zu schlüpfen. als die Eisfresser sich unter unserer Höhle erhoben. als der Träumeträumer erwachte und laut schrie. Und nun ist Harruel tot, und Koshmar ist tot, und Torlyri ist eine Beng geworden, und Taniane ist Häuptling, und Salaman ist ein König. und ich bin Hresh-der-Fragesack, der zugleich auch Hresh-der-Antwortwisser ist und der ‚Alte Mann‘ unseres Stammes. Aber ich will mein Suchen und Vorwärtsstreben fortsetzen bis ans Ende und den Rand der Erde, und Dawinno soll mein Beschützer und Leitstern sein.
Der kühle Hochlandwind blies erfrischend um ihn. Sein Denken war klar und frei und friedlich. Eine Vision tauchte in ihm auf, wie er da so für sich stand, eine Vision der Großen Welt, und ganz ohne die Hilfe irgendeiner der Maschinen, wie er sie aus Vengiboneeza mitgeführt hatte. Er sah diese Welt ganz einfach vor sich, wie wenn er durch einen Zauber in sie hinübergetragen worden wäre. Und wieder war es die Große Welt an ihrem Letzten Tag, und die Luft von Dunkelheit erfüllt, und die schwarzen Winde wehten, und Frost und Eiseskälte breiteten sich überallhin; aber diesmal war er nicht Beobachter der Szenen, sondern selbst ein Bewohner dieser verlorenen Welt. er war — ein Saphir-äugiger. Er fühlte das Gewicht seiner gewaltigen Kinnbacken, die Schwere seiner mächtigen Schenkel und des Schwanzes. Und er wußte, dies war der Letzte Tag der Großen Welt. der Saphiräugige, der Hresh-voller-Fragen war, wußte es. Keiner der Saphiräugigen würde den sich nahenden Untergang überleben. Die Götter hatten den Tod über ihre Welt gesandt.
Und Hresh-als-Hresh erkannte, daß es Dawinno-der-Zerstörer war, dessen Tag gekommen war, während Hresh als Saphiräugiger friedfertig auf seinen Tod wartete. Die Kälte, die auf seinen Leib eindrang, würde nach innen weiterziehen, bis sie sein Leben auslöschte. Ja, es war Dawinno. Der Gott, der Tod und Veränderung bringt, aber auch Erneuerung und Neugeburt. Und endlich verstand Hresh, was Noum om Beng ihm hatte sagen wollen. Daß es ein sündhaftes Vergehen gegen Dawinno gewesen wäre, hätte man die Todessterne, die auf jene Welt herabzustürzen drohten, abzuwenden versucht. Und die Saphiräugigen hatten dies gewußt. Und sie hatten sich dem Gesetz und Gebot der Götter gefügt. Sie hatten keinen Versuch zu ihrer eigenen Rettung unternommen, weil sie wußten, daß alle Zyklen ihren Gang nehmen müssen und daß sie selbst aus dieser Welt verschwinden müßten, um Platz zu machen für jene, die nach ihnen kommen sollten.
Ja. Ja, natürlich, dachte Hresh. Das hätte mir doch eigentlich einleuchten müssen, ohne daß Noum om Beng mir dermaßen viele Hiebe versetzen mußte. Sehr gescheit, der Bursche, hat der Alte von mir gedacht, aber — manchmal bin ich auch sehr langsam von Begriff. Thaggoran, der hätte mir gewiß alle diese Sachen erklären können, wäre er nur am Leben geblieben. Aber dann rief Dawinno auch den Thaggoran zu sich. also mußte ich das alles ganz alleine lernen.
Dann lächelte Hresh. Eine andere Vision wurde in seiner Seele lebendig: eine schimmernde, leuchtende Stadt auf einem fernen hügeligen Hang, glühend in sämtlichen Farben des Universums, leuchtend in einem so feurigen Licht, daß es einem die Seele betäubte, sie anzuschauen. Keine Stadt der Großen Welt war diese hier, sondern eine neue Stadt, eine Stadt der künftigen Welt, jener Welt, die Hresh errichten würde. Aus dem Erdgrund stieg eine dunkle anschwellende Musik und umfing ihn ganz. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß Taniane an seine Seite getreten sei.
„Schau da!“ sagte er. „Diese großartige Stadt.“
„Eine von den Städten der Saphiräugigen?“
„Nein. Eine Menschenstadt. Und wir werden sie erbauen, zum Beweis dafür, daß auch wir Menschen sind!“
Taniane nickte. „Ja, jetzt sind wir die Menschlichen.“
„Nein, wir werden Menschen sein!“ sagte Hresh.
Er dachte an die goldene Quecksilberkugel und an alle die Maschinen, die sie kontrollierte. Wunder, gewiß. Aber nicht unsere Wunder. Doch wir werden sie benutzen und uns unser eigenes Wunder schmieden. Für uns, dachte er, wird es ein unentwegtes endloses Weitergehen, ein immerwährender Aufbruch sein. Und jetzt hebt unsere Zeit der Pflicht an, der Kampf gegen die Vernichtung, um den Sieg, um die Beherrschung alter Künste und Fertigkeiten und neuer Techniken. der lange mühsame Aufstieg. Und ich werde den Weg weisen. Ich werde den anderen sagen: „Folgt mir dorthin!“ Und sie werden mir folgen.