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Er kämpfte, um seine Fassung wiederzugewinnen. Er biß sich fest auf die Lippen, ballte die Fäuste, atmete langsam und tief durch. Dann schaute er, was die anderen taten.

Der Stamm verharrte dichtgedrängt vor der Luke auf dem Felsansatz. Manche weinten leise, manche gafften verblüfft, manche waren in tiefem Schweigen versunken. Keiner war unbewegt geblieben. Die Morgenluft war kühl und frisch, und die Sonne stand als riesiges schreckliches Auge jenseits des Flusses hoch in den Himmeln. Das Firmament drückte wie eine Decke auf sie herab. Es hatte eine schneidende harte Färbung, und dicke staubige Dunstnebel bildeten Spiralmuster darin, wenn sie vom Wind erfaßt wurden.

Die Welt breitete sich vor ihnen weit und immer weiter aus, eine riesenhafte leere Ödnis, in alle Richtungen hin offen, soweit Hresh nur blicken konnte; es gab keine Wände, es gab überhaupt nichts, das beschränkte, eingrenzte. Und das war am allerbestürzendsten — diese Offenheit. Keine Wände, keine Mauern, nirgendwo! Immer hatte es Mauern gegeben, gegen die man sich drücken konnte, und ein Dach über dem Kopf, einen Boden unter den Füßen. Hresh stellte sich vor, daß er einfach nach vorn in die Luft springen könnte, über den Rand des Plateaus hinweg, und dann einfach weiterschweben würde auf immer und ewig, ohne je gegen etwas zu stoßen. Selbst die Decke, die der Himmel bildete, hing so hoch über ihnen, daß sie kaum ein Gefühl von Begrenzung erlaubte. Es war wirklich erschreckend, so in diese gigantische offene Weite zu starren.

Aber wir werden uns daran gewöhnen, dachte Hresh. Wir werden uns daran gewöhnen müssen.

Er wußte, wie sehr er vom Glück begünstigt war. Lebensperiode um Lebensperiode war vergangen. Tausende Generationen von den Lebendigen, und die ganze Zeit hindurch hatte das Volk gemütlichschnuckelig wie Mäuschen in den Löchern dahingelebt und sich wundersame Märchen vorgesäuselt, wie wunder-, wunderschön die Welt außerhalb des Kokons sei, aus der die Todesgestirne die Vorfahren vertrieben hatten.

Hresh wandte sich Orbin an seiner Seite zu. „Ich hab nie so richtig geglaubt, daß ich das jemals zu sehen kriegen würde. Und du? Hast du es geglaubt?“

Orbin schüttelte den Kopf — mit einer kaum sichtbaren steifen Bewegung, als wäre sein Hals zu einem unbeugsamen Stengel erstarrt. „Nein, niemals.“

„Ich kann es einfach noch nicht glauben, daß wir wirklich draußen sind“, flüsterte Taniane. „Yissou, ist das kalt hier! Sollen wir hier draußen erfrieren?“

„Ach, es wird schon gutgehen“, sagte Hresh.

Er spähte angestrengt in die graue Ferne. Wie stark hatte es ihn verlangt, auch nur einen einzigen kurzen Blick auf die Draußenwelt zu werfen! Und er hatte sich damit zufriedengegeben, sein Geschick auf sich zu nehmen, wohl wissend, daß ihm bestimmt war, im Kokon zu leben und zu sterben. wie alle anderen auch, die seit dem Beginn des Langen Winters gelebt hatten, ohne jemals einen flüchtigen Blick auf die Welt der Wunder außerhalb der Nesttür werfen zu dürfen, es sei denn jene überaus kurzen Blicke, wie sie ihm für den Tag seiner Namensgebung und später für seinen Tvinnr-Tag versprochen waren. Ihm war es im Kokon zum Ersticken eng geworden. Jedoch auch wenn er das Dasein im Kokon haßte, so schien es doch für ihn kein Entkommen aus ihm zu geben. Und doch waren sie draußen jetzt, jenseits der abschottenden Kokontür.

Haniman sagte: „Also, mir gefällt das gar nicht. Ich wollte, wir wären noch drin und daheim.“

„Typisch für dich“, sagte Hresh verachtungsvoll.

„Bloß Verrückte, so wie du einer bist, können so was mögen, wie das hier draußen.“

„Genau“, sagte Hresh. „Genau das ist es. Und jetzt geht mein Wunsch in Erfüllung.“

Er hatte aber von dem alten Thaggoran die Namen sämtlicher verlorener Städte gelernt: Valirian, Thisthissima, Vengiboneeza und Tham; Mikkomord, Bannigard, Steenizale und Glorm. Wundererfüllte Namen! Aber was genau war eigentlich eine ‚Stadt‘? Zahlreiche nebeneinanderliegende Kokons? Und die Dinge der Natur hier draußen: Flüsse, Berge, Meere, Bäume. Er hatte die Namen gehört, aber was verkörperten sie in Wirklichkeit? Den Himmel zu schauen — nichts weiter als nur den Himmel —, war er denn nicht bereit gewesen, nein hatte er nicht fast sein Leben dafür preisgegeben, damals, als er an jenem Tag an der freundlichen Opferfrau vorbei aus der Luke geschlüpft war? Er hatte doch wirklich beinahe sein Leben dafür aufs Spiel gesetzt. Aber würde Koshmar ihn wirklich aus dem Kokon verstoßen haben, wenn nicht gerade in diesem Augenblick der Träumeträumer erwacht wäre? Wahrscheinlich schon. Koshmar war eine harte Person. Häuptlinge mußten so sein. Ein, zwei Augenblicke später hätte er sich ohne den plötzlichen Ausbruch des Träumeträumers draußen befunden, jawohl, und die Lukentür wäre auf ewig hinter ihm zugefallen. Das war eine knappe Sache gewesen, sehr knapp eigentlich. Und einzig sein Glück hatte ihn gerettet.

Hresh war schon immer überzeugt gewesen, daß er von außergewöhnlichem Glück begünstigt sei. Zwar sprach er zu keinem darüber, aber er glaubte, daß er unter dem speziellen Schutz der Götter stehe, aller Götter, nicht bloß Yissous, der ja schließlich jedermann schützte, oder Mueris, der Instanz für die Sorgenvollen und Beladenen; auch Emakkis beschützte ihn und Friit und Dawinno, jene etwas ferneren Gottheiten, die für die komplizierteren, verzwickteren Weltumstände zuständig waren. Ganz besonders aber glaubte Hresh, daß Dawinno ihn in seinen Alltagsgeschicken lenke und leite. Gewiß, es war Dawinno-der-Vernichter gewesen, der die Todessterne auf die Welt herabgeschleudert hatte, aber doch keineswegs in übler Absicht, nein — nein. Er hatte diese Sterne geschickt, weil sie kommen mußten.

Es war an der Zeit, also mußten sie kommen. Und jetzt würde die Welt erneut in Besitz genommen werden und besiedelt, und Hresh glaubte, daß ihm dabei eine bedeutende Rolle zugedacht sein werde; also würde er den Auftrag erfüllen den Dawinno für ihn ganz besonders ausgewählt hatte. Der Zerstörer war der Schützer und Wächter des Lebens, und keineswegs der Feind des Lebens, wie naivere Gemüter dies glaubten. All dies hatte Thaggoran Hresh gelehrt. Und Thaggoran war der weiseste der Männer, die jemals gelebt hatten.

Allerdings hatte Hresh damals, an jenem Tag, als er versucht hatte, hinauszugehen, wirklich beinahe den Eindruck gehabt, als habe ihn sein Glück verlassen. Und wenn sie ihn aus dem Kokon in die Draußenwelt verstoßen hätten, die zu sehen ihn dermaßen brennend verlangte — und das hätten sie bestimmt getan, Torlyri hin oder her, dessen war er sich ganz sicher, denn das Gesetz war das Gesetz und Koshmar war eine eiserne Führerin —, was wäre dann aus ihm geworden? Sobald er erst einmal ‚draußen‘ war, vermutete Hresh, konnte er wohl kaum, auf sich allein gestellt, einen halben Tag lang überleben. Nun, möglicherweise einen Dreivierteltag, sofern sein Gottesglück durchhielt. Aber keiner hatte so unverschämt viel Glück, daß er in der Draußenwelt allein lange überleben konnte. Nein, ihn hatte nur Torlyris rascher Einfall gerettet — und die gnädige Laune Koshmars.

Seine Spielgefährten hatten ihn verspottet, als ihnen bekannt geworden war, was er getan hatte. Orbin, Taniane, Haniman — sie vermochten einfach nicht zu verstehen, was ihn dazu drängen konnte, hinauszugehen, noch, warum Koshmar ihm die Strafe dafür erlassen hatte. Sie hatten vermutet, daß er sich selbst töten hatte wollen. „Kannst du denn nicht warten, bis dein Todestag gekommen ist?“ hatte Haniman gefragt. „Es sind doch sowieso nur noch zwanzig Jahre und sieben.“ Und er hatte gelacht, und Taniane hatte mit ihm gelacht, und sogar Orbin, der bisher immer sein guter Freund gewesen war, hatte gemein gegrinst und ihn in den Arm geknufft. „Hresh-Fragesack“ hatten sie ihn beschimpft, „Hresh-möcht-gern-erfrieren“ hatten sie gespottet.