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Das war weiter nicht wichtig. Nach ein paar Tagen hatten sie seine kleine Eskapade vergessen. Und nun war sowieso alles anders. Denn der Stamm zog ja wirklich hinaus. Innerhalb von einigen wenigen Wochen erblickte Hresh erneut den Draußenhimmel, und diesmal war es nicht für einen kurzen flüchtigen Augenblick. Und er würde die Berge sehen. und die Ozeane. Vengiboneeza würde er mit seinen Augen schauen und Mikkomord. Die ganze Welt würde ihm gehören.

Die Wonnezeit der Wärme Unsre Zeit ist jetzt.

„Ist das — der Himmel?“ fragte Orbin.

„Ja, das ist der Himmel“, bestätigte Hresh mit der stolzen Sicherheit dessen, der (wenn auch nur einige wenige Minuten) vorher bereits ‚hier draußen‘ war. Orbin, untersetzt und sehr stark, mit strahlenden Augen und einem immer bereiten strahlenden Lächeln, war ganz genau so alt wie Hresh und sein engster Freund im Kokon. Aber Orbin hätte sich nie getraut, mit ihm zusammen nach ‚draußen‘ zu schleichen. „Und das dort unten, das ist der Fluß. Dieses grüne Zeug dort — ist Gras. Und das rote Zeug — ist auch Gras, aber von einer anderen Sorte.“

„Die Luft schmeckt merkwürdig“, sagte Taniane und krauste die Nase. „Brennt mir irgendwie im Hals.“

„Das kommt daher, daß es hier kalt ist“, erklärte Hresh dem Mädchen. „Nach einer Weile macht es dir nichts mehr aus.“

„Aber wieso ist es kalt, wo doch der Winter vorbei ist?“ klagte sie.

„Frag mich nicht so blöde Sachen!“ grollte Hresh.

Dennoch beunruhigte ihn eben dieses Problem gleichfalls, trotz allem.

Weiter vorn, am Opferstein, vollzog Torlyri geschäftig irgendein Ritual. Das endlich letzte, hoffte Hresh, ehe der Auszug dann endlich wirklich begann. Ihm kam es so vor, als hätten sie während der ganzen letzten Woche nichts weiter getan, als Rituale erfüllt und feierliche Zeremonien abgehalten, seit der Träumeträumer erwacht war und Koshmar verkündet hatte, daß der Stamm aus dem Kokon ausziehen werde.

„Werden wir über den Fluß hinübergehen müssen?“ fragte Taniane.

„Das glaub ich eigentlich nicht“, sagte Hresh. „Dort steht die Sonne, und wenn wir in diese Richtung ziehen, könnten wir Verbrennungen bekommen. Ich glaube, wir werden in die andere Richtung ziehen.“

Er hatte zwar einfach geraten, doch es stellte sich heraus, daß er sich zumindest in der Marschrichtung nicht geirrt hatte. Koshmar — sie trug nun die Liridonmaske, die so lange an der Wand der Wohnkammer gehangen hatte, gelb und schwarz und mit einem gewaltigen Schnabel, was ihr das Aussehen eines riesenhaften Insekts verlieh — erhob den Speer und rief laut die Fünf Namen. Dann beschritt sie einen schmalen Pfad, der vom Sims zum Hügelkamm hinaufführte, von dort zur anderen Bergflanke und über den Westhang hinab in das weite kahle Tal drunten. Nacheinander reihten sich die anderen hinter ihr und stiegen langsam unter ihren schweren Packlasten hinter ihr drein.

Sie waren draußen. Sie waren auf ihrem Weg.

In ungebrochener Formation marschierten sie über den weiten Hang ins Tal hinab, in der selben Reihenfolge wie beim Verlassen des Kokons: Koshmar und Torlyri bildeten die Spitze, dann folgte Thaggoran, dann die Krieger, dann die Arbeiter, dann die Zuchtammen, und Hresh mit den anderen Kindern bildete die Nachhut. Das Tal lag viel weiter entfernt, als es den Anschein gehabt hatte, ja zuweilen schien es sich sogar vor ihnen zurückzuziehen, während sie darauf zumarschierten. Koshmar hatte ein bedächtiges Tempo angeschlagen. Auch die kräftigsten Marschierer, die vorn im Glied, schienen rasch zu ermüden; und für einige der übrigen, besonders die Ammenfrauen, und für den feisten Haniman und die kleineren Kinder war der Auszug von Anfang an mühsam gewesen. Ab und zu vernahm Hresh weiter vorn ein Weinen, doch hätte er nicht zu sagen gewußt, ob Furcht oder Erschöpfung es auslösten. Schließlich hatte ja keiner vom Stamm je so weit laufen müssen, sondern immer nur sich im Kokon hin und her bewegt, und das war irgendwie anders gewesen. Jetzt mußte man die Beine auf einer rauhen unwegsamen Oberfläche niedersetzen, die manchmal unter einem nachgab oder wegrutschen konnte. Oder man mußte Hänge hinan oder hinab klettern oder Hindernisse überwinden oder umgehen. Es war sehr viel schwieriger, als Hresh es sich vorgestellt hatte. Er hatte geglaubt: du setzt einfach einen Fuß vorwärts und dann den zweiten und dann wieder den ersten. Und im Grunde tat man ja auch genau dies; doch er hatte sich nicht klar vorgestellt, wie ermüdend so etwas sein kann.

Auch die kalte Luft erwies sich als behindernd. Sie war dünn und schien mit jedem Atemzug zu sengen und zu brennen. Sie fuhr einem wie ein Bündel Messer durch die Kehle. Man bekam einen trockenen Mund davon und wurde benommen, und sie kniff in die Ohren und in die Nase. Aber nach einer Weile machte einem das nicht mehr so viel aus.

Es herrschte eine gewaltige Stille, und das war beunruhigender, als Hresh sich hätte vorstellen können. Im Kokon war man die ganze Zeit rings von den Geräuschen des Stamms umgeben. Das bot ein Gefühl von Sicherheit. Hier draußen war das Stammesvolk leiser, die Stimmen von scheuer Furcht erstickt, und selbst wenn sie sprachen, verwehte der Wind die Worte, oder die weite Kuppel aus kalter Luft und die gewaltigen offenen Räume schienen sie zu verschlucken. Die Stille hatte etwas Bedrückendes, Hartes, Metallisches, das keinem behagte.

Ab und zu blieb einer stehen, als wolle er oder sie einfach nicht mehr weitergehen, und mußte durch Streicheln und gutes Zureden ermuntert werden. Cheysz zuerst; sie sackte zu einem schluchzenden Häuflein Elend zusammen; aber Minbain kniete bei ihr nieder und streichelte sie, bis sie sich wieder aufraffte. Danach brach der Jungkrieger Moarn zusammen und bohrte die Finger in den Boden, als wirbelte die Welt wild kreisend um ihn; er klammerte sich verzweifelt fest, die Wange an den kalten Boden gepreßt, und Harruel mußte ihn mit Tritten und barschen Worten losreißen. Ein wenig später war es Barnak, einer der Arbeiter, ein stumpfsinniger Mann mit gewaltigen Händen und einem mächtigen Nacken: er machte kehrt und begann den Weg zurück auf das Kliff zu entlangzustolpern, doch Staip lief ihm in langen Sätzen nach, packte ihn an einem Arm, gab ihm Ohrfeigen und hielt ihn fest, bis er sich wieder beruhigt hatte. Danach marschierte Barnak mit gesenktem Schädel wortlos weiter. Aber Orbin sagte: „Nur gut, daß Staip ihn erwischt hat. Wenn er weggelaufen wäre, dann wären bestimmt zehn, zwölf andere gleichfalls dorthin zurückgerannt.“

Koshmar verließ die Spitze der Prozession und kam nach hinten; sie sprach mit jedem, sprach Mut zu, lachte oder betete mit den Leuten. Auch Torlyri schritt den Zug ab und kümmerte sich um die Allerängstlichsten. Sie hielt an Hreshs Seite und fragte ihn, wie es mit ihm stehe, und er kniff ein Auge zu, und sie lachte und zwinkerte ihm gleichfalls zu.

„Hier hast du doch immer schon einmal sein wollen, was?“

Er nickte. Sie streichelte ihm die Wange und ging dann wieder nach vorn.

Der Tag schritt weiter fort. Die Zeit schien es eilig zu haben. Die Sonne unternahm etwas Komisches. Sie bewegte sich über den Himmel, anstatt dort im Osten hängenzubleiben, wo Hresh sie zum erstenmal erblickt hatte. Zu seiner Überraschung sah es so aus, als verfolgte die Sonne sie, und irgendwann, so um die Mitte des Tages, überholte die Sonne sogar den Zug, so daß sie dann am Nachmittag sogar vor ihnen im westlichen Himmel stand.