„Ich lese sie dem Volk doch jede Woche vor.“
„Ja. Das weiß ich. Aber ich möchte sie gern für mich allein lesen. Alles, auch das in den ältesten Büchern. Ich will mehr über den Kokon wissen, wie er erbaut wurde und wer ihn erbaut hat.“ „Der Herr Fanigole erbaute unseren Kokon“, sagte Thaggoran. „Mit Balilirion und der Herrin Theel. Aber das weißt du doch bereits.“
„Ja. Aber wer waren sie? Das sind doch bloß Namen.“
„Das waren die URALTEN“, sagte Thaggoran. „Gar gewaltig waren sie und groß.“
„Saphiräugige — waren sie das?“
Thaggoran warf Hresh einen seltsamen Blick zu. „Wie kommst du denn auf so was? Du weißt doch, daß alle Saphiraugen starben, als der Lange Winter begann. Herr Fanigole und Balilirion und die Herrin Theel waren Leute von unserm Blut. Das heißt, sie waren Menschen, darin stimmen alle Texte überein. Aber sie waren die größten aller Helden, diese drei: Als das Entsetzen kam, als die Todeskälte einsetzte, bewahrten sie allein die Herzensgelassenheit und führten uns in den Schutzraum.“ Er pochte auf die Lade mit den Chronikbänden. „Das steht alles hier drin niedergeschrieben, da in diesen Büchern.“
„Ich möchte diese Bücher gern einmal lesen“, wiederholte Hresh.
„Ich glaube, du wirst die Möglichkeit dazu bekommen“, antwortete Thaggoran.
Graue Nebelschwaden wehten auf sie zu. Thaggoran machte sich daran, die heiligen Gegenstände wegzupacken. Seine Finger waren taub und steif vor Kälte und fuhren unbeholfen über die Schlösser und Siegel der Lade. Nach einiger Zeit winkte er mit einer ungeduldigen Bewegung Hresh zu Hilfe und zeigte dem Knaben, was er zu tun habe. Gemeinsam verschlossen sie den Kasten, und dann legte Thaggoran die aufgesprungenen Hände auf den Deckel, als könne er sich an dem Inhalt darunter wärmen.
Hresh fragte: „Werden wir je in den Kokon zurückkehren, Thaggoran?“
Und wieder blickte Thaggoran ihn verwirrt und prüfend an. „Wir haben den Kokon für immer verlassen, Knabe. Wir müssen vorwärts gehen, bis wir gefunden haben, was zu finden uns bestimmt wurde.“
„Und was ist das?“
„Das, was wir benötigen, um über die Welt zu herrschen“, sagte Thaggoran. „So, wie es geschrieben steht im Buche des Weges. Diese Dinge erwarten uns da draußen in den Trümmern der Großen Welt.“
„Aber — was ist, wenn das alles gar nicht wahr ist. Neuer Frühling? Sieh doch bloß, wie kalt es ist! Fragst du dich denn gar nicht, ob wir vielleicht irgendwie einen Fehler gemacht und zu früh herausgegangen sind?“
„Niemals“, versicherte Thaggoran. „Es kann keinen Zweifel geben. Sämtliche Vorzeichen waren günstig.“
„Ja, aber trotzdem ist es sehr kalt“, sagte Hresh.
„Ja, wahrlich. Sehr kalt. Aber siehst du nicht, wie die Nacht langsam den Tag erstickt, wie der Tag langsam aus der Nacht geboren wird? So ist das auch mit dem Neuen Frühling, Knabe. Der Frühling kommt nicht in einem einzigen großen Einbruch von Wärme, sondern Augenblick nach Augenblick, Stückchen um kleines Stückchen.“ Thaggoran schauderte vor Kälte und schlang die Arme um seine Schultern, als der Nebel ihm bis auf die Knochen drang. „Komm her, Hresh, und hilf mir mit der Lade, und schauen wir, daß wir wieder zu den andern kommen!“
Es beunruhigte ihn, daß Hresh Zweifel an der Weisheit des Auszugs hegte, denn oftmals verbarg sich in den Worten des Knaben eine prophetische Scharfsicht, und das unbehagliche Gefühl dieses seltsamen kleinen Hresh war wie ein Widerhall seiner eigenen düsteren Ahnungen. Vielleicht hatte Koshmar doch überstürzt gehandelt, dachte er, als sie diesen Zeitpunkt für die ‚Zeit des Auszugs‘ erklärte. Und der Träumeträumer hatte ja nicht direkt gesagt, der Augenblick sei da, nicht wahr? Er hatte nur ein paar Worte hervorgestöhnt, und Koshmar hatte den Satz an seiner Statt beendet und hatte so dem Träumeträumer Worte in den Mund gelegt. Sogar Torlyri hatte ihr dies vorgehalten. Aber wer wollte es schon wagen, Koshmar in die Quere zu kommen. Thaggoran war sich darüber im klaren, da Koshmar seit langem fest entschlossen gewesen war, unter ihrer Führerschaft den Auszug zu vollziehen.
Außerdem waren da auch noch die Eisfresser: nicht bloß ein Vorzeichen des Frühlings, sondern auch eine direkte Bedrohung des Kokons. Dennoch, ob es nicht vielleicht weiser gewesen wäre, anderwärts Unterschlupf zu suchen und auf wärmere Witterung zu warten, anstatt sich durch diese weglose Wüste aufzumachen?
Nun, dafür war es zu spät. Zu spät. Der Auszug war im Gange, und Thaggoran wußte, er würde nicht enden, ehe nicht Koshmar sich den Ruhm errungen hatte, den sie stets erstrebt hatte, worin immer der auch bestehen mochte. Oder aber, es würde mit ihrer aller Tod enden. So geschehe es denn, sagte Thaggoran bei sich. Es würde so kommen, wie es kam, genau wie es meist der Fall ist.
Der zweite Tag war rauh und voller Beschwernis. Gegen Mittag stießen zornige Schwärme geflügelter Geschöpfe mit gespenstisch weißen Augen und gierigen blutsaugenden Schnäbeln auf sie herab. Delims Arm wurde aufgeschlitzt, und der Jungkrieger Praheurt trug zwei Wunden auf dem Rücken davon. Das Volk verscheuchte die Bestien mit Gebrüll und Steinwürfen und Feuerbränden, doch war es ein mißliches Tun und widerwärtig, denn sie kehrten immer wieder zurück, so daß man über Stunden hin keine Ruhe fand. Thaggoran gab ihnen den Namen ‚Blutvögel‘. Später fanden sich andere Tiere ein, noch ekelhaftere, die schwarze ledrige Schwingen mit scharfen Hornkrallen an den Spitzen und feiste kleine Leiber hatten, die mit einem stinkenden grünen Pelz bedeckt waren. In der Nacht kamen wieder die Feuerkletten in solchen Massen, daß man hätte verrückt werden können. Um die Stimmung zu heben, befahl Koshmar, alle sollten singen, und sie sangen, doch war es ein lustloser Gesang, den sie von sich gaben. Mitten in der Nacht kam Hagel über sie, ein hartes kaltes Zeug, das einem auf die Haut prallte wie eine Schütte glühender Aschen. Als Torlyri ihr Morgenopfer beendet hatte, machte sie die Runde durch das Volk und bot allen den Trost ihrer Wärme und Zärtlichkeit. „Das war der schlimmste Teil“, sagte sie. „Jetzt wird es bald besser werden.“ Sie zogen weiter.
Als sie am dritten Tag über eine Gruppe von kahlen runden grauen Berghängen hinabstiegen, die sich zu einer flachen grünen Wiese hin auftaten, entdeckte die scharfäugige Torlyri weit in der Ferne eine seltsame einsame Gestalt. Sie schien sich ihnen zu nähern. Sie wandte sich an Thaggoran und sprach: „Siehst du das dort, Alter Mann? Was meinst du, was es sein könnte? Gewiß doch nicht menschlich!“
Thaggoran kniff die Augen zusammen und spähte. Seine Augen reichten bei weitem nicht so weit in die Ferne wie die Torlyris, doch sein Zweites Gesicht war das schärfste im ganzen Stamm, und es wies ihm deutlich die gelben und schwarzen Streifenbänder auf dem langen schimmernden Leib des Geschöpfes, den langen gefährlichen Schnabel, die großen blitzenden blauschwarzen Augen, die tiefe Einschnürung zwischen Kopf und Brustkorb und die zwischen dem Thorax und dem Hinterleib. „Nein, kein Mensch“, murmelte er, bis in die Tiefen seiner Seele erschüttert. „Erkennst du denn einen Hjjk nicht, wenn du einen siehst?“
„Ein männlicher Hjjk!“ sagte Torlyri staunend.
Thaggoran wandte sich ab, um sein Beben zu verbergen. Er hatte ein Gefühl, als erlebe er einen besonders ungewöhnlich lebendigen Traum. Er vermochte es kaum zu glauben, daß ein Hjjk-Männchen, ein echtes lebendiges Hjjk-Männchen in eben diesem Augenblick über das Grasland kam. Es war, als sei eines der Bücher seiner Chroniken aus der Lade gesprungen und zum Leben erwacht, ein Buch voller Gestalten der verloren gegangenen Großen Welt, die heranströmten und vor ihm umhertanzten. Das Hjjk-Volk war für ihn nur ein Name gewesen, die Begriffsverbindung von etwas Trockenem-Uraltem-Abstraktem, eine bloße Erscheinung in einer weit entfernten Vergangenheit. Koshmar war wirklich; Torlyri war wirklich, Harruel war wirklich; diese kahle kalte Gegend war wirklich. Was in den Chroniken stand, das waren nur Worte. Aber das dort vorn, das, was da auf sie zukam, das waren nicht bloß Worte.