„Ich sehe Narren“, sagte der Hjjk-Mann. „Und nun laß mich weiter meines Weges wandern, oder du sollst es bereuen.“
Harruel fuchtelte mit seinem Speer. Koshmar schüttelte den Kopf. „Laß ihn vorbei!“ sagte sie. „Spar dir deine Kräfte für die Rattenwölfe auf!“
In brennender Sorge blickte Thaggoran dem Hjjk nach, der auf die Berge zustakte, aus denen sie gerade herabgekommen waren. Ihn verlangte danach, sich mit dem fremdartigen Geschöpf niederzusetzen und mit ihm über die Vorzeit zu reden. Sag mir, was du von der Großen Welt weißt, hätte er ihn dann gefragt, und ich will dir alles mir Bekannte berichten! Laß uns von den großen Städten Thisthissima und Glorm reden und von den Kristallenen Berg und dem Turm der Sterne und dem Baum des Lebens, und von allen anderen vergangenen großen Wundern, von deinem Volk und von dem meinigen, und von den glatthäutigen Saphiräugigen, die über die Welt herrschten, und von den anderen Völkern auch. Und dann laß uns sprechen von den Schwärmen der Stürzenden Sterne, deren gewaltige Schweife durch das Himmelsfirmament wie Feuer fuhren, und vom Donnern ihres Niedergangs beim Aufschlag auf die Erde, und von den Feuerwolken und den Wolken von Rauch, die sich erhoben, wo sie einschlugen, und von den Winden und dem schwarzen Regen, von der Kälte, die über das Land kam und über die See, als die Sonne von Staub und rußiger Asche ausgelöscht ward. Wir könnten vom Sterben der Völkerrassen sprechen, dachte Thaggoran, und vom Sterben der Großen Welt selbst, denn man wird niemals wieder ihresgleichen schauen.
Doch der Hjjk-Mann war mittlerweile fast außer Sichtweite und verschwand dann ganz hinter der Hügelkette im Osten.
Thaggoran zuckte die Achseln. Es war töricht anzunehmen, daß der Hjjk sich an einem derartigen höflichen Austausch von Wissen beteiligt hätte. In den Tagen der Großen Welt ging die Rede von seinem Volk, so hatte Thaggoran gelesen, daß es ihm an jeglicher Wärme fehle, ein Volk, das nichts von Freundschaft, Freundlichkeit oder Liebe wisse, ja, daß sie tatsächlich keine Seele hätten. Und der Lange Winter hatte bei ihnen in der Beziehung wohl kaum Besserung bewirkt.
Einige Tage weiter westwärts lagerte der Stamm eines Nachmittags auf Terrain, das anscheinend ein ausgetrockneter Seegrund war, eine Senke, die tief unterhalb der Talsohle lag. Jeder — und sei er noch so jung — hatte bestimmte Aufgaben zu erfüllen. Ein paar schickte man aus, um Zweige und Büschel trocknen Grases für das Hauptlagerfeuer zu sammeln, andere suchten nach Grünem, um das zweite, das rauchigere Feuer zu speisen, vermittels dessen man gelernt hatte, sich die Feuerkletten vom Leib zu halten, wieder andere machten sich daran, das Vieh dicht zusammenzutreiben, und einige gesellten sich zu Torlyri und sangen mit ihr den Schutzzauber zur Abwehr der nächtlichen Unholde.
Hresh und Haniman waren abgeordnet, Zunderholz zu sammeln. Hresh fühlte sich dadurch gekränkt, daß man ihm de gleiche Arbeit auftrug wie dem feisten, unnützen Haniman. Er neidete es Orbin, daß er mit den Männern hatte ziehen dürfen, um die Tiere zusammenzutreiben. Aber natürlich, Orbin war auch für sein Alter schon sehr kräftig. Trotzdem, es war entwürdigend, auf diese Art mit Haniman auf eine Stufe gestellt zu werden. Hresh fragte sich, ob Koshmar tatsächlich so gering von ihm denke.
„Wo sollen wir denn suchen?“ quengelte Haniman.
„Du kannst gehen, wohin du Lust hast“, erklärte Hresh derb. „So lang es nicht die gleiche Richtung ist wie meine.“
„Aber, wollen wir nicht zusammenarbeiten?“
„Mach du mal deine Arbeit, und ich mach die meinige. Aber bleib mir aus dem Fell, verstanden?“
„Hresh...“
„Los! Zieh schon ab! Beweg dich! Ich hab keine Lust, dich zu sehen.“
Blitzhaft zuckte in den kleinen runden Äuglein Hanimans fast so etwas wie Zorn auf. Hresh überlegte sich, ob er wirklich mit dem Kerl würde kämpfen müssen. Haniman war langsam und unbeholfen, aber mindestens um die Hälfte schwerer als Hresh. Der braucht ja gar nichts weiter zu machen, als sich auf mich draufzusetzen, dachte Hresh. Aber das soll er mal versuchen. Soll er mal!
Hanimans Zornesanflug, sofern es sich um so etwas gehandelt hatte, verging. Haniman war kein Kämpfer. Er warf Hresh einen vorwurfsvollen Blick zu, dann verzog er sich allein, wobei er ständig die Fußspitzen in den Boden stieß.
Mit seinem kleinen Flechtkorb zog Hresh genau nach Westen und ein bißchen nördlich vom Lagerplatz los und begann nach allem und jedem zu spähen, das irgendwie brennbar aussah. Es schien nicht sehr viel davon hier zu geben. Also zog er weiter hinaus. Auch da war noch immer alles kahl. Und so zog er noch weiter fort.
Die Nacht trat nun sehr rasch ein, und gewaltige ausgezackte Streifen lodernder Farben — üppiges Purpur und heftig pulsierendes Scharlachrot und ein düsteres schweres Gelb — machten den westlichen Himmel schön und schrecklich zugleich. In seinem Rücken war bereits alles schwarz geworden, eine betäubende, alles verschlingende Dunkelheit, die nur von der trübe flackernden rauchigen Fackel des Lagerfeuers unterbrochen war.
Hresh kroch vorsichtig noch ein Stück weiter um einen Felsvorsprung herum. Er wußte, was er da tat, war unbedacht. Er entfernte sich sehr weit vom Lagerplatz. Zu weit, vielleicht. Er konnte von hier aus den Gesang kaum noch wahrnehmen, und als er einen Blick über die Schulter warf, befand sich kein anderes Stammesmitglied in Sicht.
Trotzdem streunte er weiter und weiter durch die geheimnisvolle schauerliche Weite ohne Wände und ohne Gänge, über der der dunkle Himmel sich wie eine bestürzende offene Kuppel wölbte, die über alles Verständnis hinaus — und hinaufreichte bis zu den fernen Sternen, die vom Dach des Himmels hingen.
Er mußte alles sehen. Denn wie sonst sollte er verstehen können, wie die Welt beschaffen war?
Und alles sehen zu wollen, das hieß natürlich, daß man sich gewissen Gefahren aussetzen mußte. Aber schließlich war er ja Hresh-der-Fragesack, der Immer-Neugierige, und so lag es eben in seiner Natur als der unersättliche Frager, ungeachtet der Gefahren nach Antworten zu suchen. Es ist achtbar und höchlichst ehrenwert, dachte er, eine derart unruhige forschende Seele zu haben wie ich. Noch verstanden es die anderen an ihm nicht, da er ja noch ein Kind war. Doch eines Tages würden sie begreifen, das gelobte er sich.
Er glaubte, in der Ferne Stimmen zu hören, die vom Wind zu ihm herübergetragen wurden. Erregung stieg in ihm empor. Wenn er nun direkt da vorn den Lagerplatz eines anderen Stammes entdeckte?
Die Vorstellung ließ ihn unbesonnen werden. Der Alte Thaggoran behauptete doch stets, daß es andere Stämme gäbe, daß es Kokons wie den ihrigen überall auf der Welt gäbe; und — wußte Thaggoran nicht alles, oder doch beinahe alles! Aber keiner, nicht einmal Thaggoran, konnte wirklich mit Bestimmtheit wissen, ob dies auch wahr sei. Hresh wünschte sich, es möge so sein, er wollte es glauben: Dutzende, Hunderte gar von kleinen Stammesgruppen, alle in ihrem eigenen kleinen Kokon, und sie warteten Generation um Generation auf den Zeitpunkt des Aufbruchs, des Auszugs. Jedoch existierten keinerlei Beweise dafür, außer natürlich denen in der Chronik. Mit Gewißheit hatte nie ein Kontakt mit einem fremden Stamm stattgefunden, jedenfalls nicht seit den ersten frühen Tagen des Langen Winters. Wie hätte das auch sein sollen, wo doch keiner jemals den Heimatkokon.
Doehj etzt war der Stamm Koshmars auf dem Marsch in die offene Welt. Und es war gut möglich, daß es hier draußen noch weitere Stämme gab. Eine faszinierende Vorstellung für Hresh. In den ganzen acht Jahren seines Lebens hatte er immer nur die gleiche Gruppe von sechzig Leuten gekannt. Hin und wieder wurde es einem Neuen erlaubt, geboren zu werden, dann nämlich, wenn einer von den Alten die Altersgrenze erreicht hatte und zur Luke hinausgedrängt wurde, um zu sterben — aber davon abgesehen waren es stets die gleichen Leute tagaus, tagein: Koshmar und Torlyri und Harruel und Taniane und Minbain und Orbin und die ganzen andern. Die Vorstellung, er könnte auf einen Trupp völlig andrer Menschen stoßen, war wundervoll.