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Und zu allem brach auch noch die Nacht herein. Die letzten Lichtströme der sterbenden Sonne tauchten das flache Land in eine scharlachrote Flut.

„Ja also“, sagte Koshmar. „Es ist zu spät, um weiterzumarschieren. Wir schlagen hier das Lager auf.“

Harruel schüttelte den Kopf. „Nicht hier, Koshmar. Wir müssen erst etwas weiter wegkommen von diesen Mäulerbiestern. Hörst du sie nicht? Ihr Gebrüll ist gefährlich. Wenn wir hierbleiben, passiert es uns, daß die Leute in der Nacht davonlaufen und wie Schlafwandler mitten in deren Rachen stolpern.“

„Meinst du das im Ernst?“

„Wir haben so beinahe Hresh verloren“, sagte Harruel. „Der ist einfach direkt auf eins von den Dingern zugewankt.“

„Yissou!“ Stirnrunzelnd betrachtete Koshmar eine Weile die großen Schädel am Horizont. Dann spuckte sie aus und sagte: „Also gut. Ziehen wir weiter!“

Sie marschierten weiter, bis die Finsternis sie zum Anhalten zwang. Das Röhren der großen Maulköpfe war hier nur noch sehr leise vernehmbar. An einem Platz, wo aus dem Sand ein dünnes Wasserrinnsal brach, sank das Volk erleichtert zur Ruhe nieder.

„Es war ein Fehler“, sagte Staip leise.

„Daß wir aus dem Kokon ausgezogen sind, meinst du?“ fragte Salaman. „Du glaubst, wir hätten bleiben sollen? Versuchen sollen, es mit den Eisfressern aufzunehmen?“

Harruel fuhr sie wütend an. „Es war richtig, daß wir den Auszug gemacht haben“, sagte er mit fester Stimme. „Da kann es überhaupt gar keinen Zweifel geben, daß es die richtige Entscheidung war.“

„Was ich meine“, sagte Staip, „ist, daß wir in diese Richtung ziehen. Koshmar hat nicht recht getan, daß sie uns in diese elenden Ebenen führt. Wir hätten uns südwärts wenden sollen, dem Schein der Sonne zu.“

„Ach, wer weiß?“ sagte Harruel. „Eine Richtung ist so gut wie die andere.“

Im Dunkel der Nacht gab es beständig fremdartige unheimliche Geräusche: Zischen, Schnattern, Schrillen. Und das unablässige bohrende Röhren der Großmäuler in der Ferne, die ihren gierigen Hungergesang hinausgrölten, während sie am Fuß der kahlen Berge lauerten, bis ihre wehrlose Beute zu ihnen kam.

Es war die fünfte Woche der Wanderschaft. Torlyri war wie üblich bei Tagesanbruch aufgestanden, um das Opfer zum Sonnenaufgang darbringen zu können, und rollte, räkelte und streckte sich nun, ehe sie tapsig auf die Beine kam. Die Frühsonne badete sie in angenehme Wärme. Leise verließ sie den Lagerplatz, wo alle anderen noch schliefen, und spähte umher, bis sie einen passenden Fleck für ihr Opfer gefunden hatte: ein kleines Stück gen Westen. Es schien so, als sei da ein geheiligter Ort: ein kleiner Abhang, abgeschirmt, an dem Tausende von kleinen rotrückigen Insekten emsig mit dem Bau einer komplizierten türmebestückten Konstruktion über dem Sandboden beschäftigt waren. Also kniete sie daneben nieder, sprach die Worte, rief die Namen an, bereitete die Opfergaben.

Die frühe Morgensonne fühlte sich warm an, stark, angenehm. Während der paar letzten Tage war Torlyri aufgefallen, daß das Wetter irgendwie mehr und mehr angenehm geworden war. In den ersten Tagen war sie stets in einem kalten Dunst und zitternd und steif an jedem Morgen erwacht; jetzt aber kam ihr die Morgenluft milder und weicher vor, wenn auch nicht gerade schon wirklich mild und weich.

Trotzdem, es war ein Anzeichen für etwas, und es löste Hoffnung in ihr aus. Vielleicht war dies wahrhaftig der Neue Frühling, trotz allem.

In dem Punkt war Torlyri nämlich nie so ganz sicher gewesen. Genau wie alle übrigen Stammesmitglieder hatte sie sich von Koshmars hartnäckigem Optimismus fortreißen und aus dem Kokon wegreißen lassen. Aus Liebe zu Koshmar hatte sie ihre starken Bedenken nicht laut vorgebracht, aber sie wußte, es gab eine Gruppe im Stamm, die es vorgezogen hätte, wenn man im Kokon geblieben wäre. Dieser Auszug war ein gewaltiger, furchteinflößender Entschluß. Die Veränderungen waren dermaßen stark, daß Torlyri noch kaum zu glauben vermochte, daß sie diesen Schritt hinaus wirklich getan hatten. Seit ewig hatte der Stamm in seinem Kokon gelebt — oder doch jedenfalls beinahe seit ewigen Zeiten, was ja fast das gleiche war. Hunderte von Tausenden von Jahren — hatte der arme alte Thaggoran immer gesagt! Es war für Torlyri unmöglich, sich vorzustellen, wie lange so etwas sein mochte, viele hundert von tausend Jahren — oder auch bloß tausend Jahre. Tausend Jahre — das war doch eigentlich schon ‚immer und ewig‘. Also waren wohl Hunderttausend Jahre hundertmal mehr ‚ewig und immer‘.

Aber sie waren gehorsam ausgezogen — nachdem sie hundertmal für immer und ewig in ihrem Kokon gelebt hatten. Wie schlafbenommene, traumbetäubte Taumler waren sie Koshmar hinausgefolgt in eine Welt urplötzlich auftauchender Gefährdung.

Diese wilden blindwütigen, knurrend-pfeifenden Rattenwölfe — was für ein Segen, daß der Stamm vor ihnen gewarnt worden war, oder es hätte mehr als nur zwei Leben gekostet, soviel war sicher. Und dann diese Blutvögel — was war das für ein scheußlicher Kampf gewesen, bis man sie vertrieben hatte! Und dieses Flüggeziefer mit den Lederschwingen, das danach auftauchte. Und dann. nach dem. da kam.

Nein, Torlyri wußte es, es würde kein Ende geben der tödlichen Gefahren, die auf dieser weiten flachen Erdfläche auf das Volk lauerten. Und kalt war es hier, sogar jetzt noch, und trocken und zum Herzerbarmen öde, und es gab auch keine Mauern, Wände, Grenzen. Hier gab es keine Grenzen. Der Kokon hatte absolute Sicherheit geboten — und hier gab es nichts davon, überhaupt nichts an Sicherheit.

Und wenn sie nun den Kokon zu früh verlassen hätten?

Sicher, es waren Jahrhunderte seit dem letzten größeren Kataklysma vergangen, hatte jedenfalls Thaggoran behauptet. Was jedoch, wenn dies jetzt nur eine jener ruhigeren Intervallperioden war, zwischen dem Niedergang eines der Todessterne und dem Sturz des nächsten?

Vor ein, zwei Tagen hatte Minbain genau die gleichen angstvollen Befürchtungen ausgedrückt, als sie zu Torlyri kam, um in Kommunion mit Mueri zu treten. Es war das drittemal innerhalb einer Woche, daß Minbain um diese Vereinigung gebeten hatte. Die Auswanderung schien schwerer auf ihr zu lasten als auf den übrigen Frauen, den meisten edenfalls, vielleicht weil sie älter war als die meisten anderen, obwohl es ein paar gab, die sogar noch älter waren als Minbain und dennoch recht gut durchhielten. Sie aber wirkte abgehärmt und niedergeschlagen und steckte voller Zweifel.

„Thaggoran hat uns immer gesagt“, stammelte Minbain, „daß mindestens fünftausend friedliche Jahre vorbeigehen, zwischen der Zeit der niederstürzenden Todessterne. Aber das bedeutet doch nicht, daß damit alles vorbei ist, hat er gesagt. Jedesmal nach einer Zeit ohne Todessterne soll ein neuer Todesstern auftauchen. Wie können wir also sicher sein, daß die Welt jetzt den letzten von ihnen gesehen hat?“

„Yissou-der-Beschützer hat uns herausgeführt“, sagte Torlyri beschwichtigend und haßte sich im gleichen Augenblick dafür, daß ihr die tröstliche Lüge so glatt über die Zunge glitt.

„Wenn es aber nicht der Beschützer war, der uns herausgeführt hat?“ fragte Minbain. „Wenn es der Vernichter war?“

„Frieden“, flüsterte Torlyri. „Komm ganz dicht zu mir, Minbain. Laß mich deiner Seele Erleichterung spenden.“

Doch ihre eigene Seele fand wenig Ruhe. Zwar mühte sie sich, es nicht merken zu lassen, doch in ihr herrschte fast ebenso große Furcht wie in Minbain. Es gab einfach keine Garantie dafür, daß dies wirklich die richtige Zeit des Auszugs und Aufbruchs sei. Torlyri glaubte daran, daß die Götter es gut mit ihnen meinten; doch gab es auch keine Möglichkeit, das Walten und Wirken der Götter weislich zu wissen, die in ihrer Weisheit, so groß sie auch sein mochte, das Volk leicht in furchtbares Verderben führen mochten. Denn wie sollte denn irgend jemand wissen, was werden würde und kommen? Morgen oder über den Morgen oder am übernächsten Tag mochte man vielleicht schon das schreckliche Feuer aus dem Schweif eines Todessterns über die Himmel hereinfahren sehen, und dann würde die ganze Welt unter der gewaltigen Wucht des Zusammenpralls erbeben, und der Himmel würde schwarz sein, und die Sonne verborgen, und alle Wärme würde weichen von der Welt, und verderben würden alle wärmeliebenden Wesen, so sie nicht zeitig Schutz und Zuflucht fänden. Dies war so vielmals geschehen, in der Vorzeit, in den siebenhunderttausend Jahren des Langen Winters. Wie also sollte man gewiß sein, daß es nicht wieder so werden würde? Der Stamm schuldete es der Menschheit, sich zu bewahren und lebenskräftig zu erhalten, bis der lange Alptraum endlich von der Welt weichen würde.