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Es ist möglich, daß wir die einzigen sind, die es überhaupt noch irgendwo gibt, dachte Torlyri.

Dieser Gedanke war entsetzlich. Nur dieses eine kleine, verwundbare Häufchen, etwa sechzig Frauen, Männer und Kinder, als Bollwerk und Brücke zwischen dem Menschen und seiner Auslöschung! Dürfen wir überhaupt auch nur das geringste Risiko eingehen, vernichtet zu werden, dachte sie, wenn wir die einzigen Überlebenden unserer Art sind? Es war doch so, als trügen sie die gesamte Bürde aus all den Millionen Jahren der menschlichen Existenz auf Erden: und alles zentrierte sich nun auf diese kleine Stammeshorde, diese lächerlich wenigen Versprengten und unsicher über die öden Ebenen Wandernden. Und das war eine fürchterliche Vorstellung.

Aber dennoch, die Tage wurden wirklich wärmer.

Es wäre ein Aberwitz gewesen, hätte sich das Volk bis ans Ende der Zeit in seinem kuscheligen Kokon verstecken wollen, um darauf zu warten, bis man absolut sicher sein konnte, der Auszug in die Welt sei gefahrlos. Die Götter gaben niemals absolute Gewißheit über etwas. Nein, man mußte den Einsatz wagen und glauben. Koshmar glaubte, daß es ungefährlich sei hinauszuziehen. Die Weissagungen harten es ihr angedeutet. Und Koshmar war Stammesoberhaupt. Torlyri wußte, sie selbst würde die Dinge nie mit dem klaren, kühnen Blick Koshmars sehen können. Dies war der Grund, warum Koshmar Häuptling war — und sie nur eine Priesterin.

Geschäftig bereitete sie das Sonnenaufgangsopfer vor. Allmählich ging es ihr besser. Ja, Yissou beschützte und ernährte sie wahrhaftig. Die Götter hatten das Volk nicht im Stich gelassen oder gar Verrat an ihm geübt, als sie Koshmar erlaubten, das Volk hinauszuführen. Alles würde sich zum Guten wenden. Sie waren durch gewaltige Fährnis gewandert, und große Gefahren lagen zuhauf noch vor ihnen; doch alles würde gut sein. Sie standen unter dem Schütze Yissous.

Der Auszug hatte die Erfindung eines neuen Morgenrituals erforderlich gemacht. Es vollzog sich nicht mehr der tägliche Tausch der Dinge aus dem Innern des Kokons gegen die Dinge von außerhalb. Statt dessen füllte Torlyri jeden Abend eine Schale mit Grashalmen und Erde von dem Ort, an dem sie über Nacht lagerten, und am nächsten Morgen bot sie die Gaben den vier Himmelsrichtungen dar und erflehte den Schutz der Götter, und dann trug sie den Inhalt der Schale mit sich, um ihn abends auf dem nächsten Lagerplatz zu verstreuen. Auf diese Weise wob Torlyri ein heiliges Band auf dem Weg des Volkes über das Antlitz dieser unvertrauten Welt.

Diese Kontinuität herzustellen, das erschien ihr als lebenswichtig. Nach Thaggorans Tod war es, als sei die ganze Vergangenheit abgeschnitten und der Stamm verwaist und ohne Ahnen und Erbe. Sie stolperten im Finstern weiter und konnten nur ahnen, was zu tun ihnen bestimmt sei. Da ihnen das Gestern so grausam abgeschnitten war durch den Tod des Chronisten, mußten sie einen neuen Geschichtsstrang spinnen, der sich bis in die künftigen Jahre erstrecken sollte.

Als Torlyri das Morgenritual beendet hatte, erhob sie sich und wollte ins Lager zurückkehren. Unerwartet bewegte sich unter ihren Füßen etwas im Boden. Sie blickte hinab, scharrte im sandigen Boden und fühlte ein antwortendes Zucken auf ihr Bohren. Sie stellte die Schale ab, schaufelte die oberste Erdschicht fort und enthüllte dabei ein Ding, das aussah wie ein dickes rosigschimmerndes Seil, das ein Stückchen tiefer vergraben lag. Das Ding wand sich konvulsivisch, irgendwie gereizt oder ärgerlich. Behutsam berührte sie es mit der Fingerspitze, und diesesmal zuckte es dermaßen heftig, daß zwei Armeslängen aus der Erde hervorbrachen und sich wie strammes Tau in die Höhe krümmte. Kopf- und Hinterende des Dings blieben weiter verborgen.

„Was für ein scheußlicher Wurm!“ kam von oben eine Stimme. „Töte ihn, Torlyri! Töte ihn!“

Sie blickte auf. Koshmar stand oben am Hang.

„Wieso bist du gekommen?“ fragte Torlyri.

„Weil ich nicht dort sein mochte“, sagte Koshmar mit einem merkwürdig verlegenen Lächeln.

Torlyri verstand. Das Lächeln war unmißverständlich. Koshmar verlangte es nach ihrem Tvinnrpartner; sie hatten sich seit dem Auszug aus dem Kokon noch nicht ein einzigesmal gedoppelt.

Daheim im Kokon gab es die Tvinnr-Kammern für derlei intime Aktivitäten, doch hier, unter der gewaltigen offenen Kuppel des Firmaments war Heimlichkeit nicht möglich. Und inmitten der ungewohnten angespannten Atmosphäre des Trecks war ihnen Tvinnr irgendwie nicht passend erschienen. Jedoch Doppeln war für das Wohlsein der Seele wesentlich. Und allem Anschein nach vermochte Koshmar nicht länger zu warten und war deshalb Torlyri zur Opferstelle gefolgt. Torlyri freute sich darüber. Freudig streckte sie ihrer Tvinnr-Partnerin die Hand entgegen. Koshmar schlitterte die Böschung herab an ihre Seite.

Das Geschöpf wand sich noch immer zuckend in der Erde. Koshmar zog das Messer. „Wenn du es nicht töten magst, dann tu ich es.“

„Nein“, sagte Torlyri.

„Nein? Aber wieso nicht?“

„Es hat uns nichts getan. Wir wissen nicht, was es ist. Warum können wir es nicht einfach in Ruhe lassen und woanders hingehen?“

„Weil ich es verabscheue. Es ist scheußlich.“

Torlyri starrte sie seltsam an. „Noch nie hab ich dich so sprechen hören. Töten ohne Grund, nur um zu töten, Koshmar? Das paßt nicht zu dir. Tu ihm nichts, ja? Ohne Not zu töten — das ist eine Sünde wider den Ernährer. Laß die Kreatur in Ruhe!“ Etwas bedrückte Koshmar schwer, soviel war deutlich. Torlyri bemühte sich, sie abzulenken. „Du, schau dir noch mal die Burg an, die die Insekten dort gebaut haben.“

Gleichgültig sagte Koshmar: „Wie interessant.“

„Nicht wahr? Schau mal, da haben sie ein kleines Tor gemacht, und da Fenster und Verbindungswege, und hier unten.“

„Ja, es ist wunderbar“, sagte Koshmar, ohne hinzusehen. Sie steckte das Messer fort; anscheinend hatte sie auch das Interesse an dem Seilgeschöpf verloren. „Komm, laß uns doppeln, Tvinnr Torlyri“, sagte sie.

„Gern. Gleich hier, meinst du?“

„Gleich hier! Und jetzt! Es ist schon eine Million Jahre her, seit.“

„Ja. Ja, natürlich.“

Torlyri nickte zustimmend. Sanft fuhr sie mit der Hand über die Wange ihrer Partnerin, und sie legten sich gemeinsam nieder. Ihre Sensororgane berührten sich, zogen sich zurück, betasteten einander aufs neue. Dann umwanden sie sich gegenseitig sacht mit den Sensororganen und vollzogen jene behutsamen und Umschlingungsbewegungen der Tvinnr und glitten in die Anfangsstadien ihrer Zusammenfügung hinüber.

Eine Stufe nach der anderen erreichten sie die Eingliederung, leicht, mühelos, mit der Gewandtheit, die aus der langen Vertrautheit miteinander erwachsen war. Sie waren Tvinnr-Partnerinnen seit ihren Jungmädchenjahren, und sie hatten nie Verlangen nach irgend jemand sonst gehabt, ganz so, als wären sie als die zwei Hälften eines einzigen Ganzen geboren worden. Manche hatten Probleme mit dem Tvinnr; Koshmar und Torlyri, niemals.