„Aber sie haben mich gefragt. Und ich hatte ihnen nichts Verbindliches zu sagen.“
„Genau“, sagte Koshmar. „Es gibt gar nichts, was du ihnen hättest sagen können. Du brauchst doch im Grunde gar nichts weiter zu sagen als: Wir werden hier aufbrechen, wenn Koshmar bestimmt, daß wir aufbrechen. Derartige Entscheidungen fallen unter meine Weisungsbefugnis. Oder hättest du Lust, Harruel, statt meiner zu bestimmen?“
Er wirkte bestürzt. „Aber, wie sollte denn das sein? Du bist doch der Führer, Koshmar!“
„Ja. Und du tätest gut daran, das nicht zu vergessen.“
„Ich verstehe nicht, worauf du anspielen.“
„Verschwinde!“ sagte sie. „Sei so gut und hau ab! Geh! Geh, Harruel!“
Kurz zuckte etwas wie Wut in seinen Augen auf — vermischt mit Bestürzung und vielleicht sogar Furcht. In letzterem war Koshmar sich unsicher. Sie hatte immer geglaubt, Harruel leicht durchschauen zu können. Diesmal ging dies nicht. Er stand einen Augenblick lang da, funkelte sie an, öffnete die Lippen und schloß sie wieder fest, mehrmals, als bedenke er verschiedenartige wütende Widerreden und verwerfe sie allesamt; und dann vollzog er widerwillig die Ehrenbezeugung, wandte sich gewichtig um und wanderte steifbeinig davon. Kopfschüttelnd schaute sie hinter ihm drein, bis er wieder ins Lager hinabgestiegen war.
Seltsam, dachte sie. Sehr seltsam.
Alle Leute schienen sich zu verändern, hier draußen unter den Unbilden des Lebens an diesem Ort ohne schützende Wände. Sie vermochte die Veränderungen in ihren Augen zu erkennen, in ihren Gesichtern, in ihrer Körperhaltung. Einigen schienen Not und Mühsal geradezu Auftrieb zu bringen. Konya war ihr aufgefallen, ein sonst stets stiller Mann, der lieber für sich blieb, der auf einmal beim Marsch inmitten der Kolonne sang und tanzte. Oder der Knabe Haniman, der immer dermaßen weichlich und träge gewesen war: Gestern war er an ihr vorübergerannt, und sie hatte ihn kaum wiedererkannt, so hurtig und lebensheftig war er geworden. Und da waren die anderen, die bleich und müde wurden auf dem Marsch: Minbain etwa, oder der Jungmann Hignord, die sich fortschleppten, mit hängenden Schultern und die ihr Sensororgan im Staub hinter sich dreinschleppten.
Und jetzt dies: Harruel, der herumstampfte und von ihr forderte, daß sie ihm ihren Marschplan mitteile, und der fast so tat, als glaube er sich berechtigt, ihren Rang als Führer des Stammes einzunehmen. So groß und so kräftig er sein mochte, nie zuvor hatte er Koshmar gegenüber derartige ehrgeizige Regungen erkennen lassen. Stets war er auf seine grobschlächtige brummige Weise höflich-ergeben geblieben, gehorsam und verläßlich. Aber hier in diesem grenzenlosen Land ohne Mauern schien etwas Schwarzes, störrisch Starres in seine Seele eingezogen zu sein. Und in jüngsten Tagen schien es ihm kaum noch möglich, sein sehnliches Verlangen, den Stamm an Koshmars Statt zu führen, zu verhehlen.
Natürlich konnte derlei niemals geschehen. Seit ewigen Zeiten war ein Weib der Führer des Stammes gewesen, und nie hatte es darin, seit Begründung des Volks, eine Ausnahme gegeben, und so würde es auch ohne Wandel weiter sein. Gewiß, ein Mann wie Harruel war größer und kräftiger, als jemals eine Frau es ein könnte, aber der Stamm würde kaum einem männlichen Anführer vertrauen, gleichgültig, wie stark er sein mochte. Männer mangelte es an Klugheit; Männer waren bar der Fähigkeit, die Wichtigkeiten unter langfristigen Gesichtspunkten abzuwägen; Männer — jedenfalls die Starken Männer — waren zu plumpdirekt und handelten zu rasch und viel zu hastig überstürzt. Es steckte in ihnen einfach zu viel an zorniger Wut, Yissou mochte wissen, warum, aber es hinderte sie daran, ungetrübt zu denken. Koshmar erinnerte sich, wie Thekmur ihr gesagt hatte, daß die blinde Wut der Männer aus diesen Kugeln ströme, die sie zwischen den Beinen trugen, was ihnen beständig ins Gehirn steige und sie deshalb zu vernünftiger Ausübung von Herrschaft unfähig mache. Dies war während der letzten Lebenswochen Thekmurs gewesen, kaum wenig später, nachdem sie Koshmar offiziell zur Nachfolgerin deklariert hatte. Und Thekmur hatte wahrscheinlich ihre Kenntnisse über die Männer in enger Bekanntschaft mit diesen erworben, denn sie hatte oft Männer erkannt, in der Weise, wie Frauen Männer erkennen (was Koshmar selbst nie in ihrem Leben getan hatte).
Ihr Götter, dachte sie. Ist es etwa das? Begehrt Harruel mich?
Es war eine zugleich erregende und entsetzliche Vorstellung. Sie würde ihn von nun an strikt beobachten müssen. Denn soviel war klar, etwas lastete auf Harruels Seele, was da vordem nie sichtbar geworden war.
Vielleicht war es so, daß er — wenn er schon nicht selbst Führer des Volkes werden konnte — wenigstens der Verführer und Häuptling der Führerin sein wollte. Und das würde sie natürlich niemals erlauben. Aber — sie brauchte Harruel, sie brauchte seine große Kraft und Stärke und seinen kühnen Mannesmut, ja, sie brauchte sogar seinen Zorn und seine Wut. All dies erforderte sorgfältiges Überdenken.
4. Kapitel
Der Chronist
Hresh mußte allen seinen Mut zusammenraffen, um vor Koshmar hinzutreten und darum zu bitten, man möge ihn an Thaggorans Stelle zum Chronisten ernennen. Er fürchtete nicht so sehr eine Abweisung, denn immerhin war sein Ansinnen ja ziemlich unerhört. Nein, wovor ihn grauste, das war, daß man sich über ihn lustig machen könnte. Und Koshmar konnte grausam sein; Koshmar konnte grob und verletzend sein. Außerdem wußte Hresh, daß sie bereits Grund genug hatte, ihn nicht zu mögen.
Doch zu seiner Überraschung schien die Stammesführerin sein unverschämtes Ersuchen huldvoll entgegenzunehmen. „Chronist, sagst du? Aber das ist eine Stellung, die üblicherweise dem ältesten Mann im Stamm gebührt, nicht wahr? Und du bist — wie alt?“
„Ich bin fast schon neun“, sagte Hresh mit Festigkeit.
„Neun. Ja, das ist aber noch nicht ganz Ältester Mann.“ Versuchte Koshmar ein Lächeln zu unterdrücken?
„Der Älteste Mann derzeit ist Anijang. Aber der ist ja wohl zu dumm für den Posten des Chronisten, nicht wahr? Außerdem, Koshmar, was hat mein Alter damit zu tun? Hier draußen sind doch alle Dinge für uns anders geworden. Gefahren lauern auf allen Seiten. Sämtliche erwachsenen Männer müssen beständig Wache halten. Wir hatten den Angriff durch die Rattenwölfe, wir hatten die Blutvögel, die Feuerkletten, die Lederflügler, wir müssen nahezu jeden Tag neue feindselige Kreaturen abwehren. Und die kommen alle immer und immer wieder. Ich bin noch zu klein, um im Kampf viel zu taugen. Vorläufig. Aber die Chronik führen, das kann ich.“
„Bist du da ganz sicher? Kannst du lesen?“
„Thaggoran hat es mich gelehrt. Ich kann Worte schreiben und sie lesen. Ich kann mich auch gut an Sachen erinnern. Ich beherrsche schon jetzt einen guten Teil der Chroniken auswendig. Prüfe mich mit irgendeiner Stelle! Die Niederkunft der Todessterne. die Erbauung der Kokons.“
„Du kannst die Chroniken lesen?“ fragte Koshmar erstaunt.
Hresh spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoß. Was für ein dummer Fehler! Die Chroniken waren mit Siegeln gesichert; niemand — außer dem Chronisten selbst — hatte das Recht, die Lade, in der sie geborgen waren, zu öffnen. Tatsächlich jedoch hatte Hresh es schon in den Tagen im Kokon manchmal bewerkstelligen können, ein paar Seiten der Texte zu studieren, die Thaggoran zuweilen offen in seiner Kammer umherliegen hatte lassen, denn der Alte Mann war manchmal sorglos gewesen oder allzu liebevoll vertrauend, aber er schien nie bemerkt zu haben, was Hresh hinter seinem Rücken anstellte. Den Großteil seiner Spurensuche in die Geschichte allerdings hatte Hresh erst nach Thaggorans Tod und klammheimlich durchgeführt, während die älteren Stammesmitglieder auf Nahrungssuche außerhalb des Lagers weilten. Oft blieb der Troß unbewacht; es gab keinen Chronisten mehr, der ein besonders wachsames Auge auf den Schatz gehabt hätte; niemand schien den kleinen Jungen zu bemerken, wenn er die geheiligte Lade öffnete, und niemand schien sich darüber Gedanken zu machen.