Er hob die Augen zu Koshmar. „Also, bin ich nun der neue Chronist?“ fragte er.
Sie blickte ihn fest und prüfend an. „Wie alt sagtest du, bist du an Jahren? Neun?“
„Nicht ganz neun.“
„Nicht ganz neun Jahre.“
„Aber ich kann lesen. Ich kann schreiben. Ich habe schon viele Dinge gelernt, und ich steh doch erst am Anfang, Koshmar!“
Sie nickte. „Ja, so ist es wohl“, sagte sie. „Und vielleicht ist das ja auch die einzige Möglichkeit, wie ich dich unter Kontrolle halten kann, wie, Hresh? Hresh-der-Fragesack? Also wirst du diese Bücher lesen, und sie werden dir einige deiner Fragen beantworten und dir so viele neue Fragen stellen, daß du dermaßen viel mit deinen Büchern zu tun haben und dich gar nicht mehr davonschleichen wirst, um dir neue Methoden auszudenken, wie man einen Wirbel anzettelt, eh?“
„Ich hab aber schließlich die Rattenwölfe entdeckt, damals als ich mich allein weggeschlichen habe“, erinnerte er sie.
„Ja. Ja, wahrlich, das hast du getan.“
„Ich kann nämlich beides sein, nützlich und ein Nichtsnutz.“
„Ja. Vielleicht kannst du das wirklich“, sagte Koshmar.
„Das ist doch nicht so ein dummes Spiel, das du mit mir spielst, Koshmar? Bin ich wirklich der neue Chronist?“
Koshmar lachte. „Das bist du, Junge! Ja, du bist der neue Chronist. Wir ernennen dich noch heute öffentlich. Auch wenn du nicht einmal alt genug bist, um deinen Tag der Namensgebung zu feiern. Es sind neue Zeiten, und alles ist nun anders, wie? Oder doch fast alles. Was, Junge? Na?“
Also war es geschehen. Hresh widmete sich seinen neuen Aufgaben mit großem Eifer. So gut er konnte, ergänzte er Thaggorans unvollendeten Bericht über den Auszug des Volkes bis zur Aktualität und beschrieb die Fährnisse und Abenteuer, die das Volk an dem oder jenem Ort erfahren hatte. Er unternahm den Versuch, das Tageskalendarium zu rekonstruieren, auf daß man die Riten wieder korrekt erfüllen könne; aber in der Verwirrung, die auf Thaggorans Tod eingetreten war, hatte keiner sich um diese Aufgabe gekümmert, und so argwöhnte Hresh, daß seine Zählung wohl doch nicht so ganz exakt erfolgt sein mochte, so daß man also in Zukunft damit würde rechnen müssen, daß vielleicht Namenstage und Tvinnr-Tage und weitere Ritualereignisse nicht unbedingt exakt am richtigen Tag gefeiert werden würden. Er bemühte sich hingebungsvoll, dem abzuhelfen, allerdings ohne größere Zuversicht, daß es ihm gelingen könne, da Ordnung zu schaffen.
Es ergab sich, daß Hresh nun täglich zur Stammesführerin ging und daß sie zu ihm redete, und was von hoher Bedeutung schien, das schrieb er sodann in das große Buch. Und wenn sich ihm die Gelegenheit bot, vergrub er sich stets mit der brennend-eifrigen Neugier eines Höhlenmaulwurfs in die tieferen Schichtungen der Geschichtslade, denn ihn dürstete, alles zu entdecken, was es dort zu finden gab. Er schwelgte geradezu in dem Überfluß historischer Schätze. Es würde ihn vielleicht die Hälfte seines Lebens kosten, sämtliche Bücher durchzulesen, doch er war entschlossen, es wenigstens zu versuchen. In einer Art fieberischem Wissensdurst blätterte Hresh durch die Seiten der Texte, er streichelte sie, nahm sie in sich auf, erlaubte sich kaum je, mehr als ein paar Zeilen zu überfliegen, die ihn auf einer Seite gefangennahmen, ehe er zur nächsten weitereilte und zur übernächsten und übernächsten. Die Wahrheiten, die die Bücher enthielten, wurden verschwommen und verworren, während er durch die Texte irrte, und verwandelten sich für ihn zu noch dunklerer geheimnisvoller Rätselhaftigkeit als in der Zeit, in der er noch überhaupt keine Ahnung von ihnen gehabt hatte. — aber das war nicht wichtig, denn er würde ja ausgiebig Zeit haben, dieses Wissen meisterlich zu beherrschen. Im Augenblick aber wollte er nur wild in sich hineinschlingen.
Er legte sich das Amulett um den Hals, das Thaggoran gehört hatte, und trug es von nun an Tag und Nacht. Anfangs fühlte es sich merkwürdig an, wenn es ihm gegen das Brustbein schlug, doch gewöhnte er sich rasch daran, bis es schließlich sozusagen ein Teil von ihm wurde. Durch das Tragen fühlte er sich Thaggoran nahe. Und wenn er es berührte, konnte er Thaggorans Weisheit in sich herüberströmen fühlen.
Er griff auf die allerältesten Bücher zurück, die er kaum begriff, da sie in einem fremdartigen Duktus geschrieben waren, der nicht leicht mit Hreshs Gehirn in Harmonie zu bringen war. Dennoch ließ er die Fingerspitzen zitternd über die steifen Seiten gleiten, und nach einigem drang aus ihnen ein gewisser Sinn zu ihm herüber, der allerdings stets zweideutig war, vieldeutig, bruchstückhaft, flüchtig. Die Texte waren im Grunde fragmentarische Aufzeichnungen über die Umstände der Großen Welt: anscheinend Geschichten von der Zeit, da die Sechs Völker in Harmonie miteinander auf der Erde gelebt hatten — die Menschlichen und die Hjjk-Leute und die Vegetalischen und die Mechanischen und die Meeresbewohner und die Saphiräugigen. Das Ganze war blaß und verschwommen, der dünne Widerhall eines Widerhalls, aber selbst dieses Echo noch ertönte in seiner Seele wie eine schmetternde Fanfare aus der dunklen Tiefe der Zeit herauf. Es war gewiß die erstaunlichste Epoche aller Äonen, der Gipfelpunkt der verschwundenen Pracht der Erde, und die ganze Welt war ein einziges Freudenfest, damals. Beim bloßen Gedanken, an dies bebte er: die Vielzahl an Völkern, die vielen Rassen, die schimmernden Städte, die Schiffe, die zwischen den Sternen reisten. Er wußte kaum, wo er ansetzen sollte, um dies alles in sich aufzunehmen und zu begreifen. Er fühlte, wie das Wissen von diesen Dingen — so bruchstückhaf es sein mochte — in ihm sich ausbreitete und aufquoll, so daß er manchmal fürchtete, daran zu ersticken. Dann übersprang er Teile und las die Berichte über den tragischen Untergang der Großen Welt, als die Todessterne herabzustürzen begannen, genau wie es vor so langer Zeit vorhergesagt worden war. Warum hatten sie zugelassen, daß dies geschah, sie, diese Völker, die zu solch großer Herrlichkeit aufgestiegen waren? Hatten sie die niederfallenden Sterne nicht weglenken können? Das mußte doch gewiß in ihrer Macht gelegen haben, da sie ja auch Herrscher über alle anderen Dinge waren. Aber sie taten nichts! Nirgendwo war etwas erwähnt, nur das Nahen des drohenden Untergangs selbst. Damals gingen die Saphiräugigen zugrunde, denn ihr Blut war kalt und sie konnten Frostwetter nicht ertragen; und die Vegetalischen starben gleichfalls, da sie aus Pflanzenzellen waren, konnten auch sie den Frost nicht überleben. Hresh las den heroischen Bericht über den Freitod der Mechanischen, die nicht in die Neue Zeit als Überlebende eingehen wollten, obschon es ihnen ja möglich gewesen wäre. Er las und las und schlang alles in großen Schlucken in sich hinein, die ihn trunken machten.
Auch die Schimmersteine holte er aus der Lade, legte sie zu verschiedenen Mustern aus, streichelte und drückte sie und murmelte über ihnen, in der Hoffnung, Weistum aus ihnen zu gewinnen. Aber sie blieben stumm. Ihm erschienen sie nur wie dunkelschimmernde Steine. So sehr er sich mühte, sie verrieten ihm nichts. Betrübt erkannte er, daß das Volk künftig ohne ihre Weisung würde leben müssen. Das Geheimnis, wie die Schimmersteine zum Sprechen zu bringen seien, war dem Stamm mit Thaggorans Tod für immer verloren gegangen.
Der Barak Dayir, der ‚Wunderstein‘, war der einzige Gegenstand in der Lade, den Hresh überhaupt nicht zu untersuchen wagte. Er ließ ihn unangetastet in dem grünen Samtbeutel ruhen, ja er wagte es nicht einmal, diesen zu berühren. Der Stein würde — das wußte er — Pforten zu Wissensbereichen auftun, wie sie ihm nicht einmal durch das Lesen kundwerden konnten; aber er schreckte davor zurück, zuviel zu früh tun zu wollen. Der Wunderstein war Sternenstoff, so hatte Thaggoran ihm gesagt. Und er hatte auch gesagt, daß der Stein Gefahren in sich berge. Hresh zog es vor abzuwarten, bis er auf einen Hinweis für den sicheren Gebrauch gestoßen sein würde. Insgeheim und ohne daß andere etwas davon ahnten, pries er sich selbst eifrig für diesen singulären Akt klugen Verzichts, der seinem Wesen so vollkommen fremd war, und dann lachte er sich selbst wegen dieses widersinnigen Stolzes aus.