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Den übrigen Stammesangehörigen bot die Erhöhung Hreshs in dm Stand des Chronisten vor allem Anlaß zu Belustigung. Sie hatten gehört, wie Koshmar ihn ernannt hatte, und sie konnten ihn tagtäglich beim Bagagetrain herumpottern sehen, in dem die Lade mit den Chroniken mitgeführt wurde; aber es bereitete ihnen einige Schwierigkeiten, die Tatsache zu begreifen, daß der Stammeschronist nunmehr ein kleiner minderjähriger Knabe sein sollte. Auch Mutter Minbain lachte und fragte ihn: „Also soll ich dich jetzt als Alter Mann anreden?“

„Es ist doch bloß ein Titel, Mutter. Mir ist es gleichgültig, ob man ihn benutzt, oder nicht.“

„Aber du bist der Chronist? So richtig wirklich der Chronist?“

„Du weißt doch, daß ich es bin“, antwortete Hresh.

Minbain preßte sich die Hände auf die Brüste. Unter schütterndem Gelächter keuchte sie scheinbar liebevoll, aber nicht eben freundlich: „Wie konnte ein so sonderbarer Wechselbalg wie du aus meinem Leib kommen? Wieso? Wie?“

Torlyri war ihm gegenüber netter, denn sie sagte ihm, man habe mit ihm die rechte Wahl getroffen, denn es sei ja offensichtlich, daß er zum Chronisten geboren sei; aber Torlyri war schließlich zu allen immer freundlich. Und Orbin, der sein Spielgefährte und Freund gewesen war, schaute ihn jetzt an, als sei ihm plötzlich ein zweiter Kopf gewachsen. Die anderen Kinder in Hreshs Alter hatten sich in seiner Gegenwart sowieso nie so recht wohl gefühlt. Nun hielten sie sich ihm gänzlich fern, alle, außer Taniana, die von seiner neuen Erhabenheit völlig unbeeindruckt zu sein schien. Wie zuvor sprach sie mit ihm und wanderte im Treck an seiner Seite, als habe nichts sich verändert, obschon auch sie in der letzten Zeit ziemlich viel mit Haniman zusammensteckte, ausgerechnet mit dem. Was sie an diesem Hohlkopf interessieren konnte, war für Hresh schwer zu begreifen, auch wenn Haniman, seit er marschieren mußte, weniger schwabbelig geworden war und Anzeichen erkennen ließ, daß er etwas geschmeidiger und graziöser zu werden versprach, wenn auch nicht viel.

Anijang, der in der alten Zeit einfach auf Grund der Tatsache, daß er der älteste Mann im Stamm war, wohl Chronist geworden wäre, kicherte nur glucksend in sich hinein, wenn Hresh an ihm vorbeikam. „Was du mir für ’ne Menge Ärger erspart hast, Kleiner! Wenn ich mir vorstelle, was für eine Schinderei es für mich gewesen wäre, lesen zu lernen!“ Er schien ehrlich erleichtert zu sein. Die jüngeren Männer, die Krieger, beachteten Hresh im allgemeinen nicht, außer Salaman, der gelegentlich stehenblieb und ihn anstarrte, als könne er sich nicht überwinden zu glauben, daß ein Knabe, der sogar noch jünger war als er selbst, Chronist und ‚Alter Mann‘ des Stammes hatte werden können. Die übrigen Krieger beachteten ihn gar nicht. Der Chronist war eine ehrfurchtgebietende Respektsperson für sie, aber sie waren nicht bereit, Hresh mit Ehrfurcht zu begegnen, also ignorierten sie ihn. Als einziger von ihnen ließ sich Harruel herab, überhaupt mit ihm zu sprechen. Er gloste ihn von seiner Turmeshöhe herab an und wünschte ihm Erfolg bei seiner Arbeit. „Du bist sehr jung“, sagte er, „aber — andere Zeiten, andere Bräuche, und wenn du nun einmal unser Chronist sein sollst, so habe ich daran nichts auszusetzen.“ Worauf sich Hresh gebührlich bei Harruel bedankte, auch wenn dieser in letzter Zeit so riesig und seltsam geworden war — irgendwie verbittert über eine schmerzhafte Enttäuschung, so schien es, stets mit finsterer Miene herumlaufend, mit düsteren Augen und verkniffenen Lippen —, daß Hresh es vorzog, ihm nicht in die Quere zu kommen.

Natürlich galt als abgemacht, daß Hresh jedes Wort, das Koshmar ihm diktierte, als vertraulich und geheim betrachten sollte, bis der Häuptling bereit war, den ganzen Stamm zu unterrichten. Aber schließlich war Hresh ja erst neun Jahre alt. Und so geschah es eines Tages, nicht lange nach seiner Ernennung zum Chronisten, als er und Taniane allein zusammen waren, daß er zu ihr sagte: „Weißt du, wohin wir ziehen?“

„Das weiß niemand, außer Koshmar.“

„Ich weiß es.“

„Ach ja?“

„Und ich sage es dir, wenn du es als Geheimnis bei dir behältst.“ Er kam ihr mit dem Kopf ganz nahe. „Wir ziehen nach Vengiboneeza. Hältst du das für möglich? Vengiboneeza, Taniane!“

Er glaubte, die Offenbarung müsse sie sprachlos machen. Doch sie bewirkte weiter nichts als Verständnislosigkeit in ihrem Gesicht.

„Wohin?“ fragte sie.

Sie zogen westwärts weiter und immer weiter durch wechselndes Gelände; es wurde mit jedem Tag etwas wärmer, war aber noch weit von einem angenehmen Klima entfernt.

Kein einziges Mal stießen sie auf andere menschliche Wesen, sondern ihnen begegneten nur die fremdartigen Tiere der Wildnis. Koshmar hegte darin zwiespältige Gefühle. Gern wäre sie auf einen anderen Menschenstamm gestoßen, um so die Bestätigung zu erlangen, daß es keine überstürzte Torheit gewesen sei, als sie ihr Volk vor dem wirklichen Ende des Winters in den Auszug gehetzt hatte; ferner wäre sie auch gern die Sorge wegen der bedrückend unangenehmen Möglichkeit losgewesen, daß ihre sechzig Seelen alles waren, was von der Menschenrasse noch übrig war. Und in Wahrheit wünschte sie sich sehnlich, sich mit irgendwelchen anderen Wandergruppen zusammenzuschließen, mit denen ihr Volk die Nöte und Gefahren des Zuges hätte teilen können.

Gleichzeitig jedoch war ihr die Vorstellung, auf andere Stämme zu treffen, alles andere als angenehm. Seit langem hatte sie nun geherrscht, ihr Wille hatte absolut und unbestritten gegolten. Harruels sauertöpfisches Gesicht und sein unzufriedenes leises Nörgeln stellten für Koshmar keine echte Bedrohung dar, denn das Volk würde ihn nie an ihrer Stelle als Anführer annehmen. Wenn man jedoch auf einen anderen Stamm stieß und mit ihm eine Art Bündnis einging, dann könnten sich dabei sehr wohl Rivalitäten ergeben, Auseinandersetzungen, vielleicht gar Kampf. Aber Koshmar wollte auf keinen Fall ihre Macht mit einem anderen Häuptling teilen. Sie erkannte, daß sie bis zu einem gewissen Grad sogar wünschte, ihr Volk möchte die einzigen Menschlichen sein, die den Untergang der Großen Welt überleben konnten.

Auf diese Weise würde sie nämlich — sofern alles gut verlief — als eine der größten Führergestalten aller Zeiten in die Geschichtschronik eingehen, als jene, die allein die Menschenrasse wieder zum Leben erweckt hatte. War dies Hochmut und Eitelkeit? Ja, und sie gestand es sich ein. Aber es war doch gewiß auch keine unverzeihliche Ruchlosigkeit, solchen Ehrgeiz zu hegen.

Jedoch, ihre Aufgaben und ihre Verantwortung lasteten schwer auf ihr. Sie zogen durch gefährliches Land einem unbekannten Ziele zu. Jeder neue Tag brachte neue Beunruhigungen, die den Mut und das Durchhaltevermögen des Stammes auf harte Proben stellten, und Koshmar selbst war oft ungewiß, welche Richtung sie wählen sollte. Diese Zweifel allerdings mußte sie vor dem Volk verbergen.

Sie rief den Stamm zusammen und eröffnete ihm endlich, daß das Endziel Vengiboneeza sei. Die älteren Leute kannten diesen Namen aus den Geschichten, die Thaggoran ihnen erzählt hatte, als sie noch im Kokon lebten; aber die Jugend riß nur weit die Augen auf.