„Erzähle ihnen von Vengiboneeza!“ befahl sie Hresh.
Er trat vor und sprach von den herrlichen Türmen der uralten Stadt, von ihren leuchtenden Steinpalästen, den wundersamen Maschinen, den warmen blitzenden Teichen und den lichtflimmernden Gärten. Alle diese Beschreibungen hatte er entdeckt, indem er die Hände auf die Blätter der Chronik gelegt und die Bilder in seinem Gehirn hatte aufsteigen lassen.
„Aber wozu sollte Vengiboneeza für uns gut sein?“ fragte Harruel, als Hresh geendet hatte.
Koshmar fuhr scharf dazwischen: „Es ist der Beginn unserer Größe. Die Chroniken berichten uns, daß die Maschinen aus der Großen Welt dort noch immer warten und daß, wer sie findet, mächtig sein wird durch sie. Also werden wir nach Vengiboneeza ziehen und hineingehen und nach seinen Schätzen suchen. Und wir werden uns davon nehmen, soviel wir brauchen, und uns zu Beherrschern der Welt machen und uns eine eigene prachtvolle große Stadt erbauen.“
„Eine Stadt?“ fragte Staip. „Wir sollen eine Stadt haben?“
„Selbstverständlich werden wir eine Stadt haben“, sagte Koshmar. „Sollen wir denn wie die wilden Tiere des Feldes hausen, Staip?“
„Vengiboneeza ist Staub seit siebenmal hunderttausend Jahren“, sagte Harruel düster. „Dort wird es nichts geben, was uns nutzen könnte.“
„Die Chroniken berichten es anders“, widersprach Koshmar.
Es erhob sich ein Murren an mehreren Stellen. Staip brummte weiter, und Kalide und ein paar andere von den Älteren gleichfalls. Koshmar fing den Blick Torlyris auf, die bekümmert und besorgt zu ihr herschaute, und sie begriff, daß ihre Macht über das Stammesvolk aufs schwerste gefährdet war. Sie hatte ihnen mit dem leidensvollen schweren Treck zuviel abverlangt. Sie hatte sie aus der Bequemlichkeit des Kokons in Stürme und bittere Kälte gerissen und sie dem grausamen Glast der Sonne und dem bleichen kalten Licht des Mondes ausgesetzt. In eine Welt voll Blutvögel und Feuerketten und Wesen mit höhlenweit klaffenden Mäulern hatte sie das Volk überantwortet. Und geduldig hatten sie all das Ungeheure und die Plagen erduldet, nun aber fand ihre Langmut allmählich ein Ende. Jetzt mußte sie ihnen gewinnträchtigen Lohn anbieten, wenn sie das Volk dazu bewegen wollte, ihr weiterhin zu folgen.
„Hört mich an!“ rief sie laut. „Hat einer unter euch Grund, an mir zu zweifeln? Ich bin Koshmar, die Tochter von Lissiminimar, und ihr habt mich unter der Herrschaft Thekmurs zum Häuptling erwählt, und habe ich euch je im Stich gelassen? Ich werde euch nach Vengiboneeza führen, und alle die Wunder der Großen Welt werden uns gehören! Und dann werden wir uns erneut aufmachen und uns zu Herrschern über alles machen! Wir werden an wumen Orten schlafen und vom Süßen trinken, und es wird da sein Nahrung und feine Kleider und ein leichtes Leben für alle! Das gelobe ich euch, und dies ist das Gelöbnis des Neuen Frühlings!“
Noch immer mürrische Blicke da und dort. Staip trat unruhig von einem Bein aufs andere. Koshmar sah, wie Konya ihm etwas zuflüsterte. Auch Kalide wirkte unsicher und sagte ein, zwei Worte zu Minbain. Harruel schien irgendwo weit weg, in dumpfes Brüten versunken zu sein. Doch keiner erhob offen die Stimme gegen sie. Sie spürte, daß der Wendepunkt in dem Gefühl der Leute erreicht war.
„Auf nach Vengiboneeza!“ schrie Koshmar.
„Auf nach Vengiboneeza!“ kam das Echo von Torlyri. „Vengiboneeza!“ schrillte auch Hresh.
Ein Augenblick gespannter Unsicherheit. Die anderen schwiegen noch immer. Die Augen waren noch immer verdrossen. Koshmar sah die müden, bekümmerten, aufsässigen Leute. Einzig Torlyri und Hresh hatten sich für sie ausgesprochen; aber Torlyri war ihr Tvinnr-Partner; und Hresh, Hresh war ihre Kreatur, ihr Knecht. Wollte denn keiner sonst den Ruf aufgreifen?
„Vengiboneeza!“ Endlich. Eine helle kräftige Stimme. Orbin, dieser brave kräftige Junge. Und dann, ganz überraschend, auch Haniman, und dann ein paar von den älteren Leuten, Konya, Minbain, Striinin — und dann schließlich alle, alle, sogar Harruel, sogar widerwillig: Staip. Sie waren wieder ein geeinter Stamm und sprachen mit einer Stimme: „Vengiboneeza!“
Dann zogen sie weiter. Aber wie lange wird es dauern, fragte sich Koshmar, bis ich sie wieder ganz von vorn auf meine Seite bringen muß?
Je weiter sie zogen, desto höher wurden die Verluste. An einem Tag voll merkwürdig heißer, sprunghaft stürmischer Winde wurde der Jungmann Hignord von etwas Grünem-Gewundenem-Vielbeinigem, das aus einer im Boden versteckten Grube herausfuhr, davongetragen. Einige Tage später wurde das Mädchen Tramassilu, das ausgezogen war, um kleine gelbe baumbewohnende Kröten zu fangen, von einem riesenhaften wahnsinnigen Hüpfer mit einem langen roten Schnabel aufgespießt, der auf sie niedergefahren kam wie eine Lawine und dann schnatternd über ihrem Leichnam tanzte, bis Harruel ihn mit der Keule zerschmetterte.
Dies waren bereits vier Gefallene von sechzig Personen bei Beginn des Auszugs. Die Bäuche der Brutpaare schwollen vom Ersatz für die Verlorengegangenen, doch eine Geburt brauchte viel Zeit, und der Tod kam rasch hier draußen. Koshmar quälte die Furcht angesichts ihres schrumpfenden Stammes; was, wenn die Zahl so gefährlich abnahm, wenn noch mehr Frauen zugrundegehen sollten. Zwei der Verluste bisher waren schon fruchtbare Frauen gewesen. Man brauchte nicht mehr als ein männliches Stammesmitglied, um einen ganzen Stamm zu schwängern, das wußte Koshmar sehr wohl; aber es waren die Frauen, welche die Kinder trugen und gebaren, und sie brauchten lange zum Austragen.
Die schweren Wolken barsten, und es regnete zehn Tage und zehn Nächte lang, so daß alle vor Nässe troffen und stanken. Vorher hatten sie auf dem Treck keinen Regen gehabt. Aber der Anblick des vom Himmel fallenden Wassers verlor rasch seine Faszination. Regen hörte auf, etwas Neues zu sein und wurde zur quälenden Plage.
„Vengiboneeza?“ begannen sie zu sagen. „Wie lang dauert es denn noch bis Vengiboneeza?“
Es gab solche, die beharrlich behaupteten, ein neuer Todesstern sei auf die Erde geschlagen, zu weit weg, als daß man den Aufprall hier hätte hören können, und daß der Regen nur der Beginn einer neuen Zeit der Finsternis und Kälte sei. „Nein!“ beschied sie Koshmar heftig. „Der Regen ist nur etwas, das es eben in diesem Land hier gibt. Da, wo wir herkamen, war es trocken, nun, und hier ist es eben naß. Seht ihr denn nicht, wie dicht das Gras hier wächst, wie üppig das Laub ist?“ Und wirklich, es war so. Also zogen sie weiter, gebückt und durchnäßt und rochen nach feuchtem Fell. Und nach einiger Zeit hörten die Regen wieder auf.
Dann wurden die Tage allmählich kürzer. An jedem Tag seit dem Auszug aus dem Kokon war jeder Tag immer ein Stückchen länger gewesen als der vorherige; doch nun, man konnte es einfach nicht bezweifeln, sah man die Sonne an jedem Nachmittag ein wenig früher hinter den westlichen Horizont sinken.
„Vengiboneeza.?“ begann das Stammesvolk wieder zu brummen.
Und Koshmar nickte und wies gen Westen.
„Ich glaube, wir betreten ein Land der ewigen Nacht“, sagte Staip. Früher war er stets lustig gewesen, ein Mann, dem Zweifel und Schwarzseherei fremd waren. Nun war dies nicht mehr so. „Und ein dunkles Land, das wird ein kaltes Land sein“, sagte er.
„Ja, und ein totes Land“, sagte Konya, der nicht mehr lachte und sang. Während der letzten paar Wochen war er zu seiner vorherigen natürlichen Reserviertheit zurückgekehrt, ja sie hatte sich noch bedeutend verstärkt, so daß er nun nicht mehr bloß verschlossen und abweisend wirkte, sondern frostig und wie in irgendeinem schrecklichen Bezirk seiner Seele verirrt. „Nichts kann an einem solchen Ort überleben“, sagte er. „Wir sollten besser umkehren.“
„Wir müssen weiterziehen“, beharrte Koshmar. „Das, was jetzt geschieht, ist normal und naturgemäß. Wir sind an einen Ort gelangt, an dem die Dunkelheit stärker ist als das Licht. Wenn wir darüber hinaus sind, wird alles sich zum Besseren wenden.“