„Wirklich?“ fragte Staip.
„Habt Vertrauen“, sagte Koshmar. „Yissou wird uns beschützen. Emakkis wird uns ernähren. Dawinno wird uns leiten.“
Und so zogen sie weiter.
Doch in ihrem Innersten war die Anführerin gar nicht so gewiß, daß ihre Zuversicht berechtigt sei. Im Kokon waren Tage und Nächte stets gleich lang gewesen. Offenkundig war das hier draußen anders. Doch was bedeutete es tatsächlich, dieses Schwinden der hellen Tagesstunden? Vielleicht hatte Staip doch recht, und sie zogen in ein Reich, in dem die Sonne niemals aufging, und sie würden alle den Tod durch Erfrieren finden.
Sie wünschte sich sehr, Thaggoran wäre noch da, damit sie ihn um Rat fragen könne, denn er würde eine Erklärung gewußt haben — oder doch wenigstens irgend etwas Vertraueneinflößendes erfunden haben. Doch sie hatte jetzt keinen Thaggoran mehr, und der Alte Mann ihres Stammes war — ein Kind! Aber Koshmar ließ den Jungen trotzdem zu sich rufen und, achtsam bemüht, ihn nicht merken zu lassen, wie verwirrt sie sei, sprach sie zu ihm: „Ich muß einen sehr alten Namen finden, Chronist.“
„Und welcher Name wäre das?“
„Der Name, den die Uralten fanden für den Wechsel der Zeiten des Lichts und der Dunkelheit. Es muß da doch etwas in den Chroniken vermerkt sein. Und der Name ist der Gott; wir müssen diesen Gott bei seinem richtigen Namen anrufen, wenn wir beten, sonst wird das Licht der Sonne niemals wiederkehren.“
Hresh machte sich daran, die Archive zu durchstöbern. Er arbeitete das ganze Buch des Weges durch, das Buch der Stunden und der Tage, das Buch des Goldenen Erwachens, das Buch des Trügerischen Scheins, und manch anderen Band, darunter auch solche, die nicht einmal einen Titel hatten. Teilantworten fand er hier in dem oder jenem Buch und Bruchstücke in wieder einem anderen, und nach dreitägigem Forschen trat er wieder vor Koshmar hin und sprach: „Der Name lautet Jahreszeiten‘. Es gibt die Jahreszeit des vollen lichten Tags, auf welche folgt die Zeit der Dunkelheit, und nach dieser kommt die lichte Zeit wieder herauf.“
„Das ist ja einleuchtend“, sagte Koshrnar. „Die Jahreszeiten. Wie konnte ich nur dieses Wort vergessen?“ Und sie ließ Torlyri holen und trug ihr auf, zu dem Gott der Jahreszeiten zu beten.
„Und was für ein Gott ist das?“ fragte die sanftmütige Opferpriesterin.
„Ja, eben der Gott, der die Zeit des Lichtes und die Zeit der Dunkelheit schenkt“, sagte Koshmar.
Torlyri war unsicher. „Meinst du Friit? Aber Friit ist der Heiler. Also, der würde wohl Licht nach der Dunkelheit bringen.“
„Aber Friit würde nicht die Dunkelheit bringen“, sagte Koshmar. „Nein, es ist ein ganz anderer Gott.“
„Also, dann sage es mir, denn ich weiß wahrhaftig nicht, wem ich opfern soll.“
Koshmar hatte zwar gehofft, daß Torlyri da Bescheid wissen würde, aber nun erkannte sie, daß ihre Geliebte die Entscheidung von ihr erwartete. „Es ist Dawinno“, sagte sie ohne weiteres.
„Ja. Der Zerstörer“, sagte Torlyri und lächelte. „Die Finsternis und dann das Licht, ja, das wäre genau die Art von Dawinno. Er hält alles in Ausgewogenheit, damit es richtig werde — am Ende.“
Also ging von da an jeden Tag zur Mittagszeit, wenn die Sonne am höchsten am Firmament stand, Torlyri ans Werk und opferte Dawinno-dem-Vernichter in seiner Gestalt als Gott der Zeit des Jahres. Dabei verbrannte sie ein paar alte Fellflausen und ein Stück trockenes Moderholz in einer kostbaren alten Opferschale aus geschliffenem grünen Stein, der von Goldadern durchzogen war. Der zur Sonne aufsteigende Rauch enthielt ihre Botschaft an den Gott, dessen schwer begreifliche Feinheiten menschliches Begriffsvermögen überstiegen.
Obgleich die Tage immer kürzer wurden, ließ Koshmar keine weiteren Diskussionen über diese Erscheinung zu. „Das ist der Lauf der Jahreszeiten“, sagte sie und wedelte Einwände gebieterisch mit der Hand weg. „Das weiß doch ein jeder! Also, was wäre daran zum Fürchten? Jahreszeiten, die sind naturgegeben. Sie sind ein Geschenk Dawinnos an das Volk.“
„Ja“, brummte Harruel, nicht leise genug, daß Koshmar ihn nicht hören mußte. „Genau wie die Todessterne.“
Aber auch die Landschaft wandelte sich. Lange Zeit waren sie durch flaches Land gezogen; dann kamen Aufbrüche, die Gegenden wurden wild, voller brennend scharlachroter Felskämme, deren Oberkanten messerscharf waren. Und gleich jenseits davon stießen sie auf etwas Seltsames: etwas Totes aus Metall, doppelt so breit wie ein Mann, aber nur knapp halb so groß, das da ganz allein an einem kahlen felsigen Hang stand. Der Kopf war eine weitgeschwungene Kuppel mit einem Auge, die Beine höchst kunstvoll gestaltet. Früher einmal muß das Ding eine dichte schimmernde Metallhaut besessen haben, aber jetzt war es von den Regen unzähliger Jahre mit Rost und Korrosionsnarben übersät. „Es ist ein Mechanischer“, verkündete Hresh, nachdem er seine Bücher befragt hatte. „Hierher müssen sie gegangen sein, um zu sterben.“ Und wirklich, weiter drunten in den Niederungen stießen sie auf viele weitere derartige Objekte oder Geschöpfe, auf Hunderte, Tausende der untersetzten Metallwesen, auf ganze Plantagen von ihnen, die das Land in jeder Richtung bedeckten, wo sie aufrecht auf ihren kleinen einsamen Privatzonen ruhten, jeder in seinem kleinen abgeschlossenen Privatbereich. Und alle waren sie tot, und alle rosteten vor sich hin. Sie waren dermaßen zerfressen, daß sie bei der kleinsten Berührung sich auflösten und zu staubigen Rostwolken zusammenbrachen. „In den Tagen der Großen Welt“, erklärte Hresh feierlich, „lebten diese Wesen in den mächtigen großen Städten der großen Königreiche, wo alles und jeder eine Maschine war. Aber sie legten keinen Wert darauf weiterzuexistieren, als die Todessterne herabzustürzen begannen.“
„Was ist das, eine ‚Maschine‘?“ fragte Haniman.
„Eine Maschine“, erklärte Hresh, „ist eine Vorrichtung, die Arbeit erledigt. Ein Ding aus Metall, denkbefähigt und zweckorientiert und mit einer Art Leben ausgerüstet, das dem unsrigen nicht entspricht.“ Eine bessere Definition hatte er nicht gefunden. Aber das Stammesvolk nahm sie hin. Doch als dann ein anderer fragte, wieso es möglich sei, daß ein Etwas, das Leben besaß, selbst wenn es dem des Volkes unähnlich sein mochte, dieses Leben bereitwillig und widerspruchslos aufzugeben bereit sein konnte, als die Todessterne kamen, da wußte Hresh keine Antwort. Es überstieg nämlich sein Verständnis, wie man willig auf das Leben verzichten konnte.
Koshmar schlenderte suchend zwischen den Horden toter Mechanischer herum, weil sie hoffte, vielleicht auf einen zu stoßen, der möglicherweise noch genug Leben in sich hatte, um ihr sagen zu können, wie sie in die Stadt Vengiboneeza gelangen könnten, aber die blinden verrosteten Visagen höhnten ihr nur schweigend entgegen. Alle, allesamt waren sie so tot, daß eine Hoffnung, sie wieder zum Leben zu erwecken, unsinnig war.
Danach kamen sie durch eine scheußliche Sandwüste, die schlimmer war als alles, was der Stamm an Trockengegenden vordem überstanden hatte. Hier gab es überhaupt kein Wasser, nicht einmal ein Bächlein, kein Rinnsal. Wenn die Schwere eines Fußes auf ihn sank, zerriß und zerbröckelte der Erdboden. Nichts konnte hier grünen oder wachsen, nicht das winzigste Büschel Grashalme, und die einzigen Tiere waren flache, gelbe niedrige Wesen, die klingenscharfe Spuren hinter sich zurückließen, wenn sie durch den Sand glitten. Sie stachen Staip und Haniman, und denen schwollen schmerzhafte blaurote Beulen an den Beinen, die mehrere Tage lang nicht verschwanden. Sie stachen auch ein paar Tiere der Herde, die daran starben. Die Wanderer hatten mittlerweile nur noch sehr wenige ihrer Tiere übrig. Sie hatten die meisten von jenen, die sie mit sich aus dem Kokon geführt hatten, schlachten müssen, um die Leute zu ernähren, aber es waren auch einige weggelaufen und waren nun verloren, oder aber sie waren unterwegs von anderen Geschöpfen getötet worden. An diesem Ort der Trockenheit wurde dem Volk die Kehle versengt und die Augen sanken zurück in die Höhlen, und das Volk sagte unablässig immer wieder, wie dankbar und glücklich sie sein würden, wenn ihnen jetzt ein weniges von jenen Regen geschenkt wäre, die sie noch vor kurzer Zeit als derart beschwerlich empfunden hatten.