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Dann aber ließen sie den Ort der Trockenheit hinter sich und kamen in ein grünendes Land, das von Seenketten und einem tückischen Fluß durchbrochen war, und sie überquerten es auf Flößen aus Leichtholz, deren Stämme sie mittels der Rindenhaut eines schmalen azurblauen Geschöpfes verbanden, das halb Schlange und halb Baum zu sein schien. Am ändern Ufer des Flusses lag eine Kette niedriger Hügel. An einem Tag, während sie die Bergkette überquerten, erhaschte die scharfsichtige Torlyri einen Blick auf einen riesigen Trupp Hjjk-Leute in der Ferne, ein ganzes gewaltiges südwärts marschierendes Heer. In dem trüben kupfernen Dämmerlicht wirkten sie nicht größer als Ameisen, als sie durch einen felsigen Engpaß zogen; aber es mußten Tausende sein, eine erschreckend hohe Zahl. Wenn sie Koshmars kleinen Trupp entdeckt hatten, so ließen sie sich jedoch nichts davon anmerken, und bald darauf war das Insektenvolk hinter den Bergfalten dem Blick entschwunden.

Die Tage wuchsen wieder und wurden länger. Die Luft wurde wärmer. Ab und zu fegten frische winterliche Luftströme von Norden herab, doch sie wurden immer seltener. Keiner vermochte mehr daran zu zweifeln, daß der tödliche Griff, in dem der Winter die Welt gefangen gehalten hatte, sich lockerte, sich gelöst hatte und bedeutungslos geworden war. Irgendwo auf der Welt war es noch Winter, aber das Land, das sie durchzogen, war ein Frühlingsland, und je weiter westlich sie kamen, desto milder wurde die Witterung. Koshmar fühlte sich bestätigt. Der Gott der Jahreszeiten blickte huldvoll auf sie.

Wo aber lag das gewaltige Vengiboneeza? Der Chronik zufolge lag die ehemalige Hauptstadt der Saphiräugigen an dem Ort, wo die Sonne sich zur Ruhe begibt, aber wo war das? Im Westen, gewiß. Aber Westen, das war ein riesig weites Land, das sich immer weiter und weiter erstreckte ohne Ende. An jedem Abend war der Stamm um viele müdemachende Meilen weiter westwärts gewandert, und jedesmal wenn die Sonne hinter dem Rand der Welt verschwand, wenn der Tag erlosch, zeigte es sich deutlich, daß sie trotz allen Marschierens diesem Platz nicht nähergekommen waren.

„Forsche erneut in den Büchern“, befahl Koshmar in ihrer Verzweiflung dem Knaben Hresh. „Es gibt bestimmt eine Stelle in den Büchern, die du übersehen hast und die uns sagt, wie wir nach Vengiboneeza gelangen können.“

Und er ließ die Hände wieder und immer wieder über die Seiten gleiten. Er forschte in den verstaubtesten, urältesten Bänden, in denen nur von der Großen Welt berichtet wurde. Doch da war nichts zu finden. Vielleicht suchte er an den falschen Stellen. Oder vielleicht hatten die Verfasser der Chroniken es nicht für nötig befunden, den Ort dieser großen Stadt anzugeben, da sie derart berühmt gewesen war. Oder aber die Information war einfach verlorengegangen. Außerdem waren diese ältesten Chroniken auch gar nicht die Originaltexte, soviel wußte er. Denn diese waren schon vor Hunderten von Tausenden von Jahren zu Staub zerfallen; seine Bücher waren die Abschriften von Abschriften der Abschriften, die während der langen Nacht im Kokon von Generationen von Chronisten nach den zerfallenden früheren Textversionen angefertigt worden waren; und wer wollte wissen, wieviel dabei durch Fehlerhaftigkeit verändert oder ganz fortgelassen worden war, bei diesem unablässigen Niederschreiben neuer Kopien? Manche Inhalte konnte er sowieso unmöglich begreifen, und was da stand, selbst wenn es oft ganz klar war, erschien ihm in einer trügerischen gespenstischen Schärfe fast wie in einem Traum, wo alles ordentlich und logisch zu sein scheint, während doch in Wirklichkeit nichts einen Sinn ergibt.

Also überlegte Hresh, ob es nicht an der Zeit sei, den Barak Dayir zu befragen. Doch er schreckte noch davor zurück. Nie zuvor hatte er sich vor etwas gefürchtet, nicht einmal damals, als er sich aus dem Kokon zu stehlen versucht hatte. Nein, das war gelogen. Er hatte sich damals doch davor gefürchtet, daß Koshmar ihn töten lassen könnte; vor dem Tod hatte er Angst, das wollte er gar nicht abstreiten. Aber der Tod war die einzige Frage, die ihre eigene Antwort bereits enthielt und umfaßte, und wenn man diese Frage stellte und damit die Antwort hatte, dann war man dahin und ein Nichts. Darum war dies die einzige Antwort, die er fürchtete. Und die Frage, wie man den Wunderstein benutzen sollte, konnte leicht die gleiche sein wie die Erkenntnis des Todes; und wenn er sich nicht angemessen schützte, mochte die Antwort gleichfalls die gleiche sein. Darum ließ er den Barak Dayir unberührt in dem Samtbeutel.

„Sag mir, wie wir nach Vengiboneeza gelangen!“ befahl Koshmar erneut.

„Ich forsche weiter“, antwortete Hresh. „Laß mir noch einige Tage Zeit, dann will ich dir sagen, was du zu wissen begehrst.“

Harruel trat zu Hresh, während dieser in den Schriften suchte. Er ragte turmhoch auf wie stets und sprach: „Alter Mann! Chronist!“

Erschrocken blickte Hresh auf. Unbewußt zog er das Buch von Harruel fort und bedeckte es mit der Hand. Als ob Harruel fähig sein könnte, darin zu lesen!

„Setz dich nieder, wenn du mit mir reden willst“, sagte Hresh. „Du bist zu weit weg, und mir tut der Hals weh, wenn ich versuche zu dir hinauf zuschauen.“

Harruel lachte. „Du bist ganz schön keck!“

„Was möchtest du von mir wissen?“

Wieder lachte Harruel. Es war ein rauhes Lachen, und es polterte aus ihm heraus mit dem Geräusch, das Steine machen, die einen Berghang hinunterrollen, aber seinen Augen zwinkerten, und blitzten dabei. Und Hresh wußte, daß er da ein verrücktes Spiel trieb, wenn nicht gar ein gefährliches. Ein noch nicht ganz neun Jahre alter Knabe erteilte dem stärksten Mann des Stammes Befehle: Wie sollte Harruel darüber nicht lachen müssen, wenn er ihn nicht statt dessen wütend in die Landschaft schleudern wollte? Aber ich bin der Stammeschronist, dachte Hresh trotzig. Ich bin der Alte Mann. Und er ist nur ein einfältiges Muskelpaket.

Der Krieger kniete an seiner Seite nieder und beugte sich nahe zu ihm, zu nahe, als daß Hresh sich dabei wohl gefühlt hätte. Es ging nämlich von Harruel ein scharfer stechender Geruch aus, und allein seine mächtige Masse von Leib wirkte beunruhigend.

Mit gedämpfter Stimme sagte Harrueclass="underline" „Ich brauche dein Wissen.“

„Sprich!“

„Sag mir Kunde über das Ding, das Königtum heißt.“

„Königtum?“ wiederholte Hresh. Das war ein sehr altes Wort, und es war ihm zeit seines Lebens nie laut begegnet. Seltsam, es nun von Harruels Lippen zu hören.

„Du hast Kunde über das Königtum?“

„Einige“, gab Harruel zurück. „Ich erinnere mich, daß Thaggoran einmal davon sprach, als er aus den Schriften las. Du warst damals ein Säugling. Er sprach vom Herrn Fanigole und der Herrin Theel und Belilirion, und von den anderen Begründern des Volkes, damals in der Zeit, als die Todessterne kamen. Sie waren allesamt Männer, alle außer der Herrin Theel, und sie herrschten. Und ich fragte Thaggoran, ob es in den alten Zeiten oft so war, daß die Männer herrschten. An jenem Tag sagte Thaggoran, daß es in der Zeit der Großen Welt viele Könige gegeben habe, die Männer waren, und nicht nur unter den Menschlichen — auch die Saphiräugigen hatten Könige, sagte Thaggoran —, und er sagte zu mir, wenn der König sprach, dann gehorchte man seinen Worten.“

„Genau wie den Worten des Stammesführers heute.“

„Genau wie denen des Stammesführers, ja“, sagte Harruel.

„Dann weißt du ja bereits, was Königtum ist“, sagte Hresh. „Was kann ich dir mehr darüber sagen?“

„Sag mir, daß es dieses Ding wirklich gab.“

„Daß es in der Großen Welt Männer gab, die Könige waren?“ Hresh zuckte die Achseln. Er hatte sich damit nicht weiter befaßt. Aber auch wenn er es getan hätte, er bezweifelte doch, daß es recht wäre, Harruel oder irgend sonst einem, außer Koshmar, darüber etwas kundzutun. Die Chroniken existierten hauptsächlich zum Zwecke der Erleuchtung und Leitung des Stammesführers, nicht aber zur Belustigung des Volkes. „Ich weiß wenig über Königtum“, sagte er deshalb. „Was du sagtest, ist wohl schon das Wesentliche dabei.“