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„Aber du könntest mehr darüber herausfinden, nicht wahr?“

„Vielleicht steht mehr in den Schriften“, sagte Hresh zögernd.

„Dann suche es hervor und berichte mir davon. Denn mir will scheinen, daß Königtum etwas ist, das nicht hätte in Vergessenheit geraten dürfen. Die Große Welt wird erneut erstehen; also müssen wir wissen, wie es in den Tagen der Großen Welt zuging, wenn wir sie ein zweites Mal zum Leben erwecken wollen. Forsche du in deinen Büchern, Knabe. Verschaff dir Kunde über die Könige und berichte mir darüber.“

„Du sollst mich nicht ‚Knabe‘ nennen“, sagte Hresh.

Wieder lachte Harruel, aber diesmal blitzten seine Augen nicht.

„Forsche in den Büchern darüber nach“, sagte er. „Und belehre mich in diesem, was du herausfindest — Alter Mann und Chronist.“

Er ging davon. Hresh blickte ihm furchtsam nach. Er bedachte bei sich, daß die Sache höchstwahrscheinlich Ärger bringen werde, und möglicherweise Gefahr. Beunruhigt betastete er das Amulett Thaggorans. An diesem Tag begann er in der Lade der Bücher nach der Bedeutung des Königtums zu suchen, und was er dabei fand, bestätigte seine Vermutungen.

Vielleicht sollte ich Koshmar davon berichten, dachte er.

Doch er tat es dann doch nicht; ebenso wenig wie er auch nur das geringste Stückchen Information, das er aus seinem Forschen gewann, an Harruel weitergab. Und dieser wiederholte zu der Zeit und im weiteren auch seine Fragen in diesem Bereich nicht mehr. Das Gespräch blieb eine persönliche Angelegenheit zwischen ihnen beiden; ein schwärendes Geheimnis.

Koshmar spürte die Niederlage auf sich zukommen. Wäre doch nur Thaggoran noch da, um sie zu leiten! Doch Thaggoran war dahin, und ihr Chronist war ein Kind. Sicher, Hresh war hurtig und voll Eifer und Willigkeit, doch es mangelte ihm an Thaggorans tiefer Weisheit und an dem Wissen über alle die Zeitalter, die vergangen waren, an der Vertrautheit mit ihnen.

Allmählich mußte sie sich der Wahrheit stellen: Sie konnte nicht hoffen, daß es ihr gelingen werde, das Volk noch länger zum Weiterziehen zu bewegen. Das Murren hatte wieder begonnen, und diesmal war es hitziger und aufsässiger. Es gab, wie sie wußte, bereits Leute, die sagten, man zöge ziellos und sinnlos dahin. Harruel hatte sich zum Anführer dieser Gruppe aufgeschwungen. Laßt uns doch an einem guten, fruchtbaren Ort siedeln und uns dort ein Dorf errichten — so redete er hinter Koshmars Rücken. Torlyri hatte ihn gehört, wie er vier, fünf andere Männer mit derlei Gewäsch bedachte. Im Kokon wäre es unvorstellbar gewesen, daß das Stammesvolk auch nur auf die Idee hätte kommen können, dem Wort und Geheiß des Führers zu widersprechen, aber sie waren eben nicht mehr im Kokon. Koshmar sah allmählich bereits das Schreckensbild vor sich: Sie, ihrer Macht entblößt — nicht mehr Retterin und Heilsbringerin einer wiedergeborenen Welt, sondern nichts weiter als ein abgesetzter Häuptling.

Und wenn man sie absetzte, würde man sie überhaupt am Leben lassen? Lauter vollkommen neue Vorstellungen für Koshmar. Es gab keine Überlieferung über die Absetzung von Häuptlingen und ihre Geschicke nach ihrer Entmachtung.

Koshmar hatte im Kokon die Platte aus schimmerndem schwarzen Stein zurückgelassen, in dem die Seelen der Stammesführer wohnten, die vor ihr gewesen waren. Sie hatte nichts weiter mit sich genommen als deren Namen; und diese sprach sie immer und immer wieder vor sich hin; aber vielleicht besaßen die Namen keine Kraft mehr, ohne den Stein, genau wie der Stein stumm und ohne Stärke war ohne die Namen.

Thekmur, dachte sie. Nialli. Sismoil. Lirridon. Wenn ihr noch immer bei mir seid — so führt mich jetzt!

Aber die dahingegangenen Führer zeigten sich ihr nicht. Koshmar wandte sich an Hresh um Rat. Ihm gegenüber — und er war der einzige, bei dem sie dies tat — hatte sie es aufgegeben, so zu tun, als folge sie einem klaren Befehl und Auftrag der Götter.

„Was können wir tun?“ fragte sie.

„Wir müssen einfach um Hilfe bitten“, antwortete der Knabe.

„Wen?“

„Ja, natürlich die Geschöpfe, denen wir unterwegs begegnen.“

Koshmar hielt nicht viel davon. Aber alles war immerhin einen Versuch wert. Und so ließ sie von dem Tag an jedes Lebewesen, das irgendwie über Denkvermögen verfügte, und sei es ein noch so einfaches, ergreifen, und dann beruhigte sie es, bis es still wurde, und dann bemühte sie sich mittels des Zweiten Gesichts und des Sensororgans, mit dem Geschöpf in Kontakt zu gelangen und von ihm das zu erfahren, was sie wissen mußte.

Das erste dieser Geschöpfe war ein komisches rundliches Fleischding, ohne Leib, nur ein Kopf mit einem Dutzend feister Beinchen. Lebhafte Erregungswellen durchströmten das Ding, als Koshmar sein Hirn nach Bildern von Vengiboneeza auslotete, doch mehr als dieses Gekräusel trat dabei nicht zutage. Von einem Trio ungeschlachter stelbeiniger, blauer Fellwesen, die anscheinend nur ein gemeinsames Gehirn besaßen, erhielt man bei der Befragung über Städte im Westen ein Gedankenmuster, das aus heftigem Schnauben und Brummen zusammengesetzt war. Und ein scheußliches Waldgeschöpf mit Hakenkrallen, doppelt so groß wie ein Mann, nur großes Maul und vorspringende Nase und übelriechendes orangerotes Haar, lieferte ein wildes rauhes Gelächter und das blitzhafte Abbild von erhabenen Türmen, die von erstickenden Schlingpflanzen überwuchert waren.

„Das bringt uns nicht weiter“, sagte der Häuptling zu Hresh.

„Aber wie interessant diese Tiere sind, Koshmar!“

„Interessant! Wir sterben hier vielleicht hundertmal in dieser Wildnis, und du würdest das bestimmt ebenfalls interessant finden, wie?“

Dessenungeachtet trug sie Hresh auf, allen diesen Geschöpfen Namen zu geben, ehe sie wieder in Freiheit gesetzt wurden, und er mußte diese Namen in sein Buch niederschreiben. Koshmar war überzeugt, daß die Benennung mit Namen für die Dinge der Welt wichtig sei. Denn, so meinte sie, dies mußten samt und sonders ganz neue Geschöpfe sein, Tiere, die erst nach dem Untergang der Großen Welt zu leben begannen, weswegen ja wohl auch in den Chroniken nichts über sie zu lesen stehe. Und indem man ihnen Namen gebe, gewinne man mehr und mehr Macht über sie, dachte sie. Noch immer klammerte sie sich nämlich an die Hoffnung, daß sie — und durch sie, ihr Volk — Beherrscher dieser Welt des Neuen Frühlings werden könnten. Und darum die Benennung mit Namen. Doch auch als Hresh die Namen sagte, empfand sie jedesmal nach langem Nachdenken die Sinnlosigkeit eines solchen Tuns. Sie wanderten als Verirrte in diesem Land umher. Und es gab kein Ziel für sie und keinen, der sie leitete und lenkte.

Koshmars Herz wurde von tiefster Niedergedrücktheit erfüllt.

Und dann, als das Volk am Rande eines gewaltigen schwarzen Sees im Kern eines feuchten Sumpflandes entlangzog, wallten die schwarzen Wasser auf und kochten heftig, und aus den Tiefen begann langsam ein absonderlicher Koloß sich zu erheben: ein Ding von enormer Höhe, aber so zerbrechlich zusammengefügt, daß es der nächste Windstoß zerschmettern mußte — bleiche Gliedmaßen, die nicht mehr waren als dünne Streben, ein Leib, der nur aus einer unendlich langgestreckten häutchenbedeckten Röhre zu bestehen schien.

Als das Ding sich immer höher und höher hinaufreckte, bis es fast das ganze Firmament vor ihnen verdeckte, warf Koshmar die Arme über ihr Gesicht vor Bestürzung, und Harruel stieß ein röhrendes Brüllen aus und schwang seinen Speer, und einige der furchtsameren Stammesmitglieder ergriffen die Flucht.

Aber Hresh hielt stand und rief laut: „Dies muß einer vom Volk der Wasserwanderer sein. Es ist ungefährlich, glaube ich.“